Es ist ein Reflex geworden: Das Handy wandert in die Hand, sobald der Aufzug zu langsam ist oder die Kaffeepause zu leer. Ein Spaziergang ohne Podcast? Kaum vorstellbar. Wir scrollen, tippen und streamen – aus Gewohnheit, aber auch, weil uns das Aushalten von Leere zunehmend schwerfällt.
Langeweile gilt als Mangel – an Beschäftigung, an Sinn oder an Produktivität. Dabei ist sie vielleicht genau das, was uns fehlt: eine Atempause zwischen all dem Input. Denn die Gegenwart ist voll von Reizen: TikTok, Reels, News–Apps, Podcasts, Shopping, Selbst–Optimierung. Das Ergebnis: Wir verlernen, das Nichts auszuhalten.
Unser Belohnungssystem gewöhnt sich an permanente Reizzufuhr. Dopamin – der Neurotransmitter für Motivation und Freude – feuert quasi im Sekundentakt. Doch wie bei jeder Droge sinkt die Wirkung mit der Dosis. Je mehr Reiz, desto höher die Schwelle für Freude. Zurück bleibt oft eine diffuse Unruhe, ein Gefühl von innerer Leere – ironischerweise gerade durch die ständige Fülle.
Dopamin–Detox und digitale Diät
«Dopamine Detox» ist längst mehr als ein Buzzword. Immer mehr Menschen spüren die Last des ständigen Inputs und verzichten bewusst auf Social Media, Streaming und sogar Musik. Nicht für immer, sondern phasenweise und mit dem Ziel, die eigene Wahrnehmung neu zu kalibrieren, Langeweile zuzulassen und die eigene Aufmerksamkeit zurückzuerobern.
Auch der «Digital Minimalism», also digitaler Minimalismus, wie ihn Bestsellerautor Cal Newport beschreibt, folgt dieser Idee: Technologischer Verzicht ist kein Rückschritt, sondern Selbstschutz. Ein Weg zurück zu Fokus, Klarheit und echter Präsenz.
Langeweile ist kein Defizit
Im Gegenteil: Wer Langeweile zulässt, schafft Raum. Raum für Gedanken, die sich nicht sofort in To–dos oder Likes verwandeln. Raum für Tagträume, Ideen, Erinnerungen und manchmal auch Unbehagen. Aber vor allem: Raum für sich selbst.
Erzwungene Pausen und Momente der Langeweile fördern Kreativität, Problemlösefähigkeit und die Verarbeitung von Informationen. Neurologische Studien belegen, dass das Gehirn in Phasen der Langeweile beginnt, Reize zu sortieren und neue Ideen zu entwickeln. Ein Experiment der Universität Zürich zeigte, dass Menschen nach einer Phase der Langeweile eher bereit sind, sich sozial zu engagieren. Langeweile kann also das Bedürfnis nach Sinn und Zugehörigkeit stärken. Zudem kann sie als Antrieb dienen, neue Herausforderungen zu suchen und die eigene Motivation zu steigern. Forschende sehen darin einen Schlüssel für Leistungsbereitschaft und Entwicklung.
In der Romantik galt Müssiggang als Tugend. Künstler liessen sich treiben, Dichter flanierten, Philosophen starrten ins Leere. Viele ihrer Ideen entstanden in Momenten, in denen nichts geschah.
Kreative, Künstler und Philosophen wussten das längst. Der französische Mathematiker Blaise Pascal (1623–1662) schrieb: «Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer bleiben können.» Schriftsteller Oscar Wilde (1854–1900) sieht im Nichtstun eine anspruchsvolle, aber wertvolle Tätigkeit: «Gar nichts tun, das ist die allerschwierigste Beschäftigung und zugleich diejenige, die am meisten Geist voraussetzt.» Der niederländische Theologe Erasmus von Rotterdam (1536 gestorben) wusste: «Wer die Kunst versteht, mit sich selbst leben zu können, kennt keine Langeweile.» Und Apple–Gründer Steve Jobs (1955–2011) sprach davon, dass seine besten Ideen kamen, wenn er sich langweilte.
Wie wir wieder lernen, uns zu langweilen
In einer Welt, die permanent nach Aufmerksamkeit schreit, ist Langeweile ein Akt der Selbstbehauptung. Sie ist unbequem und genau deshalb heilsam. Denn nur wer das Nichts aushält, kann spüren, was wirklich fehlt. Oder eben: was eigentlich schon genug ist. Aber wie können wir mehr Langeweile in unseren hektischen Alltag einbauen?
Mikropausen zulassen: In der Warteschlange, auf dem Klo, im Fahrstuhl oder während der Busfahrt einfach mal nicht ans Handy gehen, sondern einfach sein. Scrollfreie Zeiten einführen – zum Beispiel eine Stunde vor dem Schlafen und auch morgens nicht direkt zum Handy greifen.
Klingt furchterregend, ist aber möglich: Ohne Input das Haus verlassen! Zum Beispiel ein Spaziergang ohne Podcast oder Musik, seien es nur zehn Minuten. Wirkt anfangs seltsam, aber genau das ist der Punkt.
Gedanken festhalten – und das in einem Notizbuch statt einer App. Zum Beispiel für Ideen, Beobachtungen oder das Gefühl, einfach mal nichts zu sagen zu haben. Stille kultivieren – etwa durch Meditation, Atemübungen oder einfach mal in die Leere starren.