Das Lötschentaler Museum beherbergt das Gedächtnis der Talschaft. «Unser erstes Zielpublikum sind die künftigen Generationen. Aber was heisst das nach dieser Tragödie?», fragt sich Rita Kalbermatten, die selber ihr Heim in Blatten verloren hat. Mit Co-Kurator Thomas Antonietti erzählt sie aus der Geschichte der abgelegenen Region.
Wann wurde das Tal besiedelt?
Thomas Antonietti: Der früheste Beleg menschlicher Präsenz im Lötschental ist in unserem Museum ein Pfeilbogen aus der Bronzezeit. Er stammt von vor rund 2000 Jahren vor unserer Zeitrechnung. Besiedelt wurde das Tal mit Streusiedlungen im Spätmittelalter. Ab dem 16. Jahrhundert bildeten sich die Dorfschaften Blatten, Wiler, Kippel und Ferden.
Wie und wovon lebten die Menschen?
Rita Kalbermatten: Die Leute lebten während Jahrhunderten von gemischter bäuerlicher Wirtschaft: Vieh, Getreide, Produktion von Brot, Käse, Fleisch. Auch im Textilbereich herrschte dank Schafwolle, Hanf und Flachs weitgehend Selbstversorgung. Hinzu kam die zeitweise Emigration, vor allem in die fremden Kriegsdienste. Mit der Erstbesteigung des Bietschhorns 1859 begann der Sommertourismus, mit dem Lötschbergtunnel 1913 öffnete sich das Tal Richtung Bern und Rhonetal. Zum grossen Wandel kam es aber erst in den frühen 1960er-Jahren mit der Aluminiumfabrik Alusuisse in Steg: Aus Bauern wurden Arbeiterbauern. Heute sind gut drei Viertel der beruflich aktiven Bevölkerung Pendler. Wichtig bleiben aber der Winter- und der Sommertourismus.
Die Lötschentaler lebten während Jahrhunderten von bäuerlicher Wirtschaft: Blatten um 1930.
Franz Schneider/Lötschentaler MuseumsWas ist das Besondere am Lötschental?
Thomas Antonietti: Wirtschaftlich gesehen ist es eine klassische Bergregion. Naturlandschaft, Alltag und Brauchtum haben aber dieses Tal – und vor allem auch Blatten – seit dem späten 19. Jahrhundert zu einem Anziehungspunkt für Alpinisten, Touristen, Kunstschaffende, Fotografen und Ethnologen gemacht. Es gibt wohl kaum ein Alpental, das fotografisch und ethnografisch so gut dokumentiert ist wie das Lötschental.
Beschreiben Sie die Blattner.
Thomas Antonietti: Die Blattner sind allem voran Lötschentaler. Die Lage zuhinterst im Tal und die späte Strassenerschliessung haben die wirtschaftliche Entwicklung etwas verzögert. In den letzten Jahren hat die Gemeinde eine erstaunliche Dynamik entwickelt mit der Schaffung von Wohnraum für junge Familien und innovativen Hotelbetrieben.
Was bedeutet das aktuelle Unglück für die Menschen von Blatten?
Rita Kalbermatten: Als Blattnerin habe ich schon einiges erlebt. Schwere Lawinenkatastrophen, Murgänge. Der Verlust des Hauses? Kann man verschmerzen. Aber der Verlust des Dorfs? Die Nachbarschaft, das Dorfleben, die Lötschenlücke, die Rehe und Hasen, die ich von meinem Fenster beobachten konnte – alles weg. Ich habe praktisch mein gesamtes bisheriges Leben in Blatten gewohnt und im Lötschental gearbeitet. Man kennt sich im Tal. Seit 22 Jahren bin ich nun Kuratorin im Talmuseum. Dadurch konnte ich meine Beziehungen zu den Leuten noch vertiefen.