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Bundesrätin Viola Amherd im Interview

«Die Schweiz geht einen anderen Weg»

Seit drei Jahren ist Viola Amherd die erste Schweizer Sportministerin. Vor den Olympischen Spielen in Peking spricht die Walliser Bundesrätin im Goms über ihr Krisenmanagement beim Turnskandal, eine Frauenquote im Sport – und ihren eigenen Skistil.

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Viola Amherd, Bundesrätin, Skitour, SI 05/2022

Skifahren, Ski-touren oder Schneeschuh-laufen, im Sommer Velofahren und Wandern – Viola Amherd will auch im Amt «eine gewisse Grundkondition» behalten.

Kurt Reichenbach

Sich selber bewegen oder die Leistungen der Spitzenathletinnen und -athleten am TV verfolgen – der Sport begleitet Viola Amherd seit je durchs Leben. Doch seit die 59-jährige Walliserin als erste Frau Sportministerin wurde, taucht sie noch viel tiefer in die Sportwelt ein. Sie blickt zurück – und voller Ideen und Tatendrang nach vorn.

Frau Bundesrätin, wie haben Sie als Kind zu Hause Skirennen geschaut?
Bei uns hat immer die ganze Familie vor dem Fernseher die Rennen verfolgt. Und wenn wir am Samstag selber Ski fuhren, gingen wir während des Rennens in ein Restaurant, um eine warme Schokolade zu trinken. 

Von wem waren Sie Fan?
Im Primarschulalter von Bernhard Russi, der hat auch noch einen Walliser Bezug. Im Sek-Alter war ich Fan von Lise-Marie Morerod. Beide waren elegante Fahrer. Morerod war ja die erste Schweizerin, die den Gesamtweltcup gewonnen hat, das hat mich beeindruckt.

Fahren Sie auch so elegant?
Ich fahre schon mehr als 55 Jahre lang und bemühe mich, schön zu fahren. Es ist halt noch der alte Stil (lacht).

Sie waren auch Trainerin im Tennis.
Trainerin wäre ein bisschen geblufft. Ich war Jugend+Sport-Leiterin.

Wie haben Sie mitbekommen, dass der Breitensport in der Coronakrise gelitten hat?
Für die Vereine war es extrem schwierig, weil sie Trainings und Anlässe nicht durchführen konnten. So über zwei Jahre lang die Vereinsmitglieder bei der Stange zu halten, ist schwierig. Viele haben sich daran gewöhnt, dass es gemütlich ist, nicht mehr ein- oder zweimal pro Woche ins Training zu gehen. Dazu kamen finanzielle Nöte, wenn ein Tennisklub etwa ein Turnier nicht durchführen konnte, an dem er sonst seine Vereinseinnahmen generiert. Deshalb bin ich froh, dass wir vom Bund aus finanzielle Unterstützung geben konnten, wo es nötig war.

Sie hatten seit Ihrem Antritt als Sportministerin vor allem mit Schwierigem zu tun – Corona plus die Folgen für die Vereine, der Turnskandal. Was hat Ihnen die meisten schlaflosen Nächte bereitet?
Es gab auch viel Schönes! Wenn ich an die Olympischen Sommerspiele denke und die Paralympics, da waren die Resultate der Schweizerinnen und Schweizer grossartig. Auch beim Skifahren dürfen wir auf eine ausgezeichnete Saison zurückblicken. Aber es ist so, dass die schwierigen Sachen zur Arbeit gehören. Wenn ich sehe, dass es irgendwo ein Problem gibt, oder mir etwas nicht gefällt, dann packe ich das an und verschliesse nicht einfach die Augen. Corona erzeugte einen Riesendruck, dass man rasch Lösungen findet, um den Vereinen zu helfen. Diese Unterstützungspakete zu schnüren, die Gelder zu beantragen und dann zu schauen, dass diese gerecht und gut verteilt werden und das innert kurzer Frist – das war schon nicht so einfach.

Viola Amherd, Bundesrätin, Skitour, SI 05/2022

An die Spiele in Peking reist Viola Amherd pandemie-bedingt nicht. Stattdessen verbringt sie Zeit in Selkingen VS. 

Kurt Reichenbach

Im Turnskandal haben Sie eine externe Untersuchung beantragt, die einen 800-seitigen Bericht abgeliefert hat. Zudem haben Sie eine Meldestelle eingerichtet. Sie sagen «Leistungssport – nicht um jeden Preis».
Mir war es wichtig, das sofort anzupacken, damit wir solche Zustände in Zukunft so weit wie möglich verhindern können. Man kann nie alles ausschliessen, aber wenigstens so viel tun, wie es geht, damit vor allem die jungen Athletinnen und Athleten in einer gesunden Umgebung ihren Sport betreiben können. Darum habe ich sofort entschieden, dass es eine unabhängige Meldestelle braucht. Die fängt dieses Jahr mit ihrer Arbeit an. Das ging sehr rasch, auch weil Swiss Olympic mitgeholfen hat und sich bereits Überlegungen in diese Richtung gemacht hatte. Auch die Aufarbeitung dieser Vorkommnisse war mir wichtig, darum habe ich ein Anwaltsbüro damit beauftragt: Wo sind die Probleme, weshalb gibt es sie? Wo müssen wir intervenieren, und welche Möglichkeiten gibt es, das in Zukunft zu verbessern? Rechtlicher Art, organisatorischer Art, vielleicht auch persönlicher Art? Es hat noch nie eine solch breite Studie in der Schweiz gegeben, die sich mit Fragen der Ethik im Sport befasst hat.

Denken Sie, dass das reicht, um ein Umdenken zu bewirken? 
Ich glaube, es ist eine ausgezeichnete Grundlage. Andere Länder haben im selben Bereich auch Schwierigkeiten, und die verfolgen nun sehr genau, was wir mit der Meldestelle tun, Holland und Deutschland zum Beispiel. Wir werden natürlich noch weitere Massnahmen treffen im Bereich der Governance. Wir haben eine enge Verflechtung von privatem Sport und öffentlicher Förderung, und das ist auch richtig, das bringt gute Resultate; aber es muss auch klar sein, dass der Bund, der diese Gelder zu einem grossen Teil gibt, intervenieren kann, wenn es nicht funktioniert. Da haben die rechtlichen Grundlagen vielleicht ein wenig gefehlt. Wir sind dran, diese zu erarbeiten und umzusetzen.

Viola Amherd, Bundesrätin, Skitour, SI 05/2022

Viola Amherd geniesst bei Selkingen im Goms VS die Wintersonne. Selber besitzt sie ein Chalet auf der Bettmeralp.

Kurt Reichenbach

Die Olympischen Spiele in Peking stehen an. Winterspiele im umstrittenen China während einer Pandemie – darf man sich überhaupt freuen?
Man kann sich sicher auf die Leistungen freuen, welche die Athletinnen und Athleten bringen werden. Wir werden sie stark unterstützen, auch wenn wir nicht vor Ort sein können. Sie haben jetzt vier Jahre auf diesen Anlass hin trainiert und alles gegeben. Deshalb haben sie es auch verdient, dass wir die Wettkämpfe von der Schweiz aus mitverfolgen und ihnen die Daumen drücken.

Einige Länder schicken keine politische Vertretung zur Eröffnungsfeier, der Schweizer Bundesrat geht wegen der Coronalage nicht. Wieso hat sich die Schweiz gegen einen Boykott entschieden? 
Der Bundesrat hat entschieden, die Spiele politisch nicht zu boykottieren. Die Schweiz geht einen anderen Weg. Der Bundesrat macht bei seinen internationalen Kontakten immer wieder auf die Situation der Menschenrechte aufmerksam. Und wir sagen auch, womit wir nicht einverstanden sind. Die Schweiz versucht, auf dem Weg des Dialogs etwas zu erreichen. Und ich persönlich bin grundsätzlich davon überzeugt, dass man im gemeinsamen Gespräch eher zu einem Ziel gelangt, als wenn man nicht miteinander redet.

Momentan gibt es für die Schweiz so viele Medaillen wie kaum je zuvor. Was braucht es im Schweizer Sport, damit dies so bleibt?
Wir müssen den Weg so weitergehen. Der Breitensport funktioniert sehr gut mit Swiss Olympic zusammen, das ja nicht nur den Spitzensport unterstützt. Das Programm Jugend+Sport vom Bundesamt für Sport etwa, das dieses Jahr den 50. Geburtstag feiert. Mit diesem Modell kann man eine gute Basis legen. Und natürlich auch die Spitzensportförderung, die wir in der Armee machen. Diese will ich noch verstärken. Ich habe schon 2019 angekündigt, die Plätze der Spitzensport-RS bis 2023 auf 140 Plätze zu verdoppeln. Auch im Bereich des Zeitmilitärs überlegen wir uns, wie wir noch Verbesserungen hinkriegen. Dass an den Sommerspielen gut die Hälfte der Medaillen von Athletinnen und Athleten geholt wurde, die von der Spitzensportförderung der Armee profitieren konnten, zum Beispiel die drei Mountainbikerinnen, ist natürlich sehr erfreulich.

Haben Sie neue Sportleidenschaften entdeckt in diesen Jahren?
Ich hatte das Glück, dass ich als Kind bereits verschiedene Sportarten ausüben konnte. Ich war im Turnverein, fahre Ski, seit ich dreijährig war, habe das Segelbrevet gemacht, wandere und spiele Tennis. Fussball habe ich auch gespielt. Damals konnte man aber als Mädchen noch nicht im Fussballklub sein – aber wir konnten wenigstens an Grümpelturnieren mitmachen.

Viola Amherd, Bundesrätin, Skitour, SI 05/2022

Ihr Highlight bisher: Der Wimbledon-Final zwischen Federer und Djokovic 2019, den Amherd vor Ort verfolgt hat.

Kurt Reichenbach

Was machen Sie heute vor allem?
Im Winter Ski fahren, sonst fahre ich gerne Velo. Und dort, wo ich zu Hause bin, gibt es so schöne Berge, dass ich gerne wandere. Sodass ich wenigstens eine Grundkondition halte.

Sie mussten bisher vor allem auf Krisen reagieren. Welche Themen würden Sie darüber hinaus gern anpacken?
Wichtig ist mir wie auch sonst im Departement, dass wir Frauen noch mehr fördern können. Gemäss einer Studie des Bundesamts für Sport treiben im Breitensport praktisch gleich viele Frauen wie Männer Sport. Bei den Funktionärinnen in den Verbänden sieht das aber ganz anders aus. Diesen Punkt müssen wir klar verbessern. Dass mehr Frauen an verantwortungsvolle, entscheidende Positionen kommen. Im Bereich Lohngleichheit im Sport gibt es noch viel Luft nach oben, wie auch in der Präsenz von Sportlerinnen in den Medien. Und im Bereich der Sportforschung. Diese beschäftigt sich sehr wenig mit spezifischen Fragen von Frauen, etwa der Abstimmung von Training auf Menstruationszyklen oder Sportlerinnen und Schwangerschaft.

Bis Ende 2024 fordern Sie 40 Prozent Frauen in Leitungsorganen der Sportverbände. Das sind weniger als drei Jahre, und wir sind weit davon entfernt. Wie wollen Sie das erreichen?
Man muss sich ambitionierte Ziele setzen, und wenn man etwas will, dann erreicht man das. Möglich ist auch, dass wir die Erreichung des Ziels an Subventionen knüpfen.

Woher kommt Ihr starkes Engagement für die Frauenförderung?
Für mich war bereits in der Schule Gerechtigkeit etwas sehr Wichtiges. Vermutlich habe ich deswegen auch mein Studium gewählt. Für mich müsste es normal sein, dass Frauen und Männer dieselben Möglichkeiten haben, dieselben Chancen. Dies ist aber nicht der Fall. Darum setze ich mich dafür ein, dass wir dahin kommen. Schon immer.

Wie waren Ihre Begegnungen in einem «typischen» Männerdepartement wie dem VBS?
Anfangs fiel das sicher auf, weil ich die erste Verteidigungsministerin war. Für mich war das aber nicht so speziell. Als ich in der Politik angefangen habe, gab es im Oberwallis nur sehr wenige Frauen in der Politik. Oft war ich die einzige Frau in Sitzungen, ich habe mich daran gewöhnt. Auch in meinem Beruf als Anwältin und Notarin gab es im Oberwallis nicht so viele Frauen. Auch da war man beinahe exotisch. Mich störte das in dem Sinne nicht.

Die Neutralität kurz beiseitegelegt: Welche Sportmomente sind Ihnen aus der bisherigen Amtszeit besonders in Erinnerung?
Einer war sicher der Hitchcock-Final in Wimbledon zwischen Federer und Djokovic 2019. Ich durfte das live vor Ort miterleben. Das war schon ein Wechselbad der Gefühle. Der Schluss war unglaublich und wird mir ganz sicher in Erinnerung bleiben.

Von Eva Breitenstein am 5. Februar 2022 - 17:57 Uhr