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Sprint-Europameisterin Ajla Del Ponte

«Ich finde noch Ausreden»

Kosmopolitin mit schüchternem Kern, Dickkopf mit herzlichem Wesen. Ajla Del Ponte ist mit ihrem EM-Titel über 60 Meter in der Sprint-Elite angekommen. Dass sie dort hingehört, musste die Tessinerin zuerst lernen.

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Ajla Del Ponte, Leichtathletik Sprint, März 2021, SPORT 01/2021

Ajla Del Ponte steht in Tenero im Lago Maggiore, wenige Kilometer neben ihrem Wohnort Ascona. Ihre Mutter stammt aus Bosnien, nach dem Krieg kam sie ins Tessin. Die Familie ist seither über die ganze Welt verteilt.

Philipp Mueller

«Und jetzt die Sieger-Pose!»  Ajla Del Ponte lacht, singt und tanzt vor der Kamera, als hätte sie nie etwas anderes gemacht. Der neuste Rockstar der Schweizer Leichtathletik ist seit Anfang März Europameisterin über 60 Meter. Nun ist das nationale Sportzentrum in Tenero für einmal Bühne eines Fotoshootings statt des Trainings. Und die 24-Jährige rockt sie ebenso gut.

Bereits 2020 ist die Tessinerin an die Weltspitze gesprintet. Im Corona-Sommer, in dem nicht alle im selben Mass von Meetings profitieren konnten, schwang sie sich zur Überfliegerin empor: Sie drückte ihre Bestzeit über 100 Meter von 11,21 auf 11,08 Sekunden, gewann Diamond-League-Meetings, war Ende Saison die Nummer 4 der Welt. Den EM-Titel in der Halle erlief sie sich nun in 7,03 Sekunden, womit sie den Schweizer Rekord von Mujinga Kambundji egalisierte. Erst vier Europäerinnen waren überhaupt je schneller.

Neben der physischen Entwicklung stand am Anfang des Durchbruchs die Zusammenarbeit mit einem Mentaltrainer. Denn so offen, positiv und herzlich Del Ponte ist – es bedeutet nicht, dass sie auch immer selbstbewusst war.

Ajla Del Ponte, Leichtathletik Sprint, März 2021, SPORT 01/2021

Angriffslust: Nach den Erfolgen in der 4x100-Meter-Staffel macht sich Ajla Del Ponte auch im Einzel einen Namen. Nach Mujinga Kambundji hat die Schweiz eine zweite Weltklasse-Sprinterin.

Philipp Mueller

Ajla Del Ponte, hat die Coronakrise Ihnen in irgendeiner Form auch geholfen?
Wir hatten das Glück, unsere Rennen in Ruhe zu absolvieren. Mein 2019 war ein bisschen kompliziert, ich habe keine persönliche Bestleistung erzielt. Da war also diese riesige Motivation für 2020 und zusätzlich der Fakt, dass wir keinen Druck hatten. Das war für mich positiv. Zudem habe ich im Frühling viel Zeit zuhause mit meiner Familie verbracht, zum ersten Mal seit fünf Jahren. Das gab mir Energie.

Wie viel Vertrauen hat Ihnen diese erfolgreiche Saison gegeben?
Viel! Natürlich bleibt in meinem Kopf noch der Fakt, dass die Besten nicht dort waren. Ich sage mir, dass ich deswegen gewonnen habe – ich finde also noch Ausreden. Aber ich glaube, dass sich dies nun, mit dem EM-Titel, ändert. Vor allem, weil ich nicht mit 7,14 gewonnen habe wie den ganzen Winter über. Sondern mit 7,03. Auch die Besten hätten diese Zeit erst schlagen müssen, um besser zu sein als ich. Das war der Folgeschritt für mein Vertrauen.  

Sie haben 2018 mit Mentaltraining begonnen. Was waren für Sie die Schlüsselpunkte?
Wir haben am Vertrauen in mich selbst gearbeitet. Ich war sehr unsicher, habe nicht an mein Potenzial geglaubt. Ich erinnere mich an die Hallen-WM in Birmingham 2018. Dort war ich im selben Halbfinal mit Olympiasiegerinnen und Weltmeisterinnen, und ich fragte mich: Was mache ich hier? Und wir haben an meinem Willen gearbeitet. Weil ich mich fehl am Platz fühlte, fehlte mir der Siegeswille, den andere haben. 

Wie geht das zusammen mit Ihrem Perfektionismus? Müssten Sie den Willen, die Beste zu sein, nicht schon in sich haben?
Er war sicher schon in mir. Wir mussten ihn bloss packen. Ich glaube, mein Perfektionismus hat mir im Training immer sehr geholfen, aber da waren all die Dinge in meinem Kopf, die mich im Moment des Rennens erdrückten. 

Ajla Del Ponte, Leichtathletik Sprint, März 2021, SPORT 01/2021

An der Hallen-EM in Torun (Po) im März holte Del Ponte mit Rekord-Vorsprung Gold über 60 Meter. 

Philipp Mueller

«Es ist ein Spielen. Unser Schweizer Anteil ist präziser, ernster. Der Balkanische gelöster»

Ajla Del Ponte

Ajla Del Ponte ist in Bignasco aufgewachsen, einem kleinen Dorf im Valle Maggia, bevor die Familie nach Ascona zog. Sie und ihr jüngerer Bruder Karim Del Ponte – Eishockeyprofi bei den Ticino Rockets – waren viel draussen. Ajla dachte sich Geschichten aus, die sie dann nachspielten. Die Liebe zur Kreativität ist geblieben. Sie spielt Klavier, las in ihrem Literatur- und Geschichtsstudium viel Lyrik, schreibt selber Gedichte auf Italienisch. Schon als Kind verschlang sie am liebsten 600-Seiten-Bücher, ist ein grosser Fantasy-Fan und liest Musiker-Biografien. Mit der Familie – der Vater ist Tessiner, die Mutter Bosnierin – hört sie von Rock über Filmmusik alles. Kultur, Geschichte, Sprachen: die ganze Familie diskutiert gern. 

Mit dem Preis der Universität Lausanne ausgezeichnet

Hat sich Del Ponte etwas in den Kopf gesetzt, tut sie alles dafür. Ein Training ausfallen lassen? Undenkbar. An der Uni ein Fach bloss mit «genügend» bestehen? Nein, danke! 2020 wurde sie von der Uni Lausanne sogar mit einem Preis ausgezeichnet, weil sie die hervorragende Qualität der Universität repräsentiere. Ihr Motto? «Höre nicht auf, wenn es hart wird, sondern wenn du stolz bist.» Nun lernt Del Ponte gerade, dass sie nicht immer alles perfekt machen kann. Ihr Erfolg bringt mehr Verpflichtungen mit sich, mehr Aufmerksamkeit, mehr Termine. Da muss sie gewisse Dinge auch einmal etwas lockerer angehen und loslassen können. Eine Eigenschaft, die sie als Tessinerin eigentlich haben müsste – oder? 

Ajla Del Ponte, Leichtathletik Sprint, März 2021, SPORT 01/2021

Leichtathletik trifft auf Mode: Ajla Del Ponte beim Fotoshooting auf ihrer Trainingsbahn in Tenero.

Philipp Mueller

Wir Deutschschweizer haben manchmal das Gefühl, dass Tessiner in der Schweiz etwas untergehen, zu kurz kommen. Sie auch?
Ich glaube, das ist normal. Die Sprachbarriere verunmöglicht es, uns so auszudrücken, wie wir wollen. Also ist es klar, dass das eine Segmentierung gibt, eine Andersartigkeit. Aber das sehe ich nicht negativ. Ich habe eher noch mehr Lust zu sagen: Hey! Ich bin auch hier! Wenn wir diese Dinge auf eine positive Weise nehmen, hilft es, uns zu entwickeln. 

Ihre Mutter ist aus Bosnien. War diese Herkunft ein Thema im Dorf beim Aufwachsen?
Das ist wohl in jedem kleinen Dorf irgendwie ein Thema. Es ist anders. Aber ich war immer stolz darauf, diese Wurzeln zu haben. Wenn ich an einem internationalen Wettkampf bin, kann ich mich mit den meisten Athleten aus dem Balkan unterhalten, was sie immer besonders freut. Sie wissen, wer ich bin, und ich weiss, wer sie sind. Ich bin glücklich, dass meine Mutter mir diese Anerkennung gegeben hat, also ein weiterer positiver Punkt.

Ist dieses Zusammengehörigkeitsgefühl unter den Tessinern auch da? 
Ja, sicher. Ich war an der EM zum Beispiel oft mit Ricky Petrucciani oder Filippo Moggi zusammen. Die anderen haben uns manchmal fragend angesehen, weil wir so gelacht haben. Es ist schön, diese Art Intimität zu haben. Ich habe ja auch jahrelang in der Romandie gelebt und mich dort angepasst.  

Was haben Sie denn aus Ihrer Zeit in der Westschweiz mitgenommen?
Als ich nach Lausanne ging, war ich schüchtern. Ich musste dort aus meiner Komfortzone heraus, Französisch sprechen, hatte aber einen Akzent. Ihnen gefällt der italienische Akzent, ich aber habe mich über ihn geärgert. Diese Nonchalance der Romands habe ich wohl ein bisschen angenommen. Damals begann ich, mit Sarah Atcho und Lea Sprunger zu trainieren, und auch das viele gemeinsame Lachen habe ich aufgesaugt. 

Und nun aus Holland?
Die Holländer sind sehr analytisch. Das passt gut zu meinem Charakter. Ich habe dadurch noch besser gelernt, zu analysieren, was ich im Training mache. Und sie haben tolle Desserts, Snacks, mit diesem Hagelslag. (lacht)

Wie leben Sie in der Familie die Schweizer und die bosnische Kultur?
Vieles beruht auf dem Essen. Wenn meine Mutter ein typisches Gericht kocht, freuen wir uns immer. Wenn bosnische Musik läuft, fangen wir an zu tanzen. Sonst ist es witzig: Spricht jemand in der Familie aus Versehen mit einem bosnischen Akzent, der ein bisschen russisch klingt, scherzen wir: das ist nun dieser slawische Part. Also ist es ein Spielen. Unser Schweizer Anteil ist etwas präziser, ein bisschen ernster. Und der balkanische Part ist gelöster. Menschen aus dem Balkan wie auch aus dem Tessin teilen sehr gern Dinge mit anderen. Das habe ich auf jeden Fall

Ajla Del Ponte, Leichtathletik Sprint, März 2021, SPORT 01/2021

War sie früher schüchtern, fühlt sich Del Ponte heute selbst vor der Kamera wohl.

Philipp Mueller

«Mujinga hat allen gezeigt, dass es möglich ist, Medaillen zu gewinnen und Rekorde zu laufen»

2015 wechselte Del Ponte zur Gruppe des Freiburger Trainers Laurent Meuwly nach Lausanne – der erste Schritt Richtung Spitzensport. Die ersten Jahre standen im Zeichen der Basisarbeit. Vor allem musste der zierliche Teenager einiges an Kraft zulegen, um im Sprint bestehen zu können. Was für eine erstaunliche Beschleunigung die 1,68 Meter grosse Athletin hatte, war aber rasch klar. Bereits 2016 stand sie, gerade 20 Jahre alt geworden, als Startläuferin der 4x100-Meter-Staffel an den Olympischen Spielen in Rio auf der Bahn. Und ist seither Bestandteil des Erfolgsteams, das an der WM in Doha 2019 Vierte wurde. Bis Del Ponte als Einzelstarterin richtig Furore machte, dauerte es aber bis zum vergangenen Sommer. Es ist Resultat des jahrelangen Aufbaus, des mentalen Fortschritts und auch des Schliffs, den sie in den vergangenen Jahren in Papendal erhalten hat. Im Frühling 2019 folgte sie Meuwly, der nun holländischer Nationaltrainer ist, ins -dortige sehr professionell geführte Leistungszentrum.

Ajla Del Ponte, Leichtathletik Sprint, März 2021, SPORT 01/2021

«Weil ich mich fehl am Platz fühlte, fehlte mir dieser Siegeswille, den andere haben.»

Philipp Mueller

Sie standen lange im Schatten Ihrer Staffelkolleginnen. Hatte das auch Vorteile?
Ich war die Jüngste. Die Staffel hat mir wahnsinnig viele Möglichkeiten gegeben, mich zu entwickeln. Meine ersten Meisterschaften habe ich mit ihr gemacht. Mit einer Squadra, die mich auch beschützt hat. Ich hatte nicht den ganzen Druck auf mir, da waren noch drei andere, die mir Sicherheit und eine positive Energie gaben. Ich würde sagen, die Staffel gab mir die Schlüssel für meine Entwicklung im Einzel, weil ich wusste, was mich erwarten würde. Dass man nur von den anderen spricht, war für mich kein Thema. Ich wusste, irgendwann wird mein Moment kommen. Ich muss einfach Geduld haben.

Glauben Sie, Ihr neuer Status wird die Dynamik innerhalb der Staffel verändern?
Ich sehe es so: Wir haben nun noch mehr Möglichkeiten, um schneller zu sein. Dann ist vieles möglich, beginnend an der Staffel-WM im Mai. Also hoffe ich, dass meine Resultate nochmals eine Welle der Positivität und Energie auslösen. Und ich glaube, die anderen sehen das wie ich.

Nun warten alle auf Ihr Duell mit Mujinga Kambundji, das im Sommer 2020 nicht stattgefunden hat. Haben Sie Lust, Sie im direkten Vergleich erstmals zu schlagen?
(lacht) Ich muss ehrlich sagen, dass ich so noch nie daran gedacht habe. Aber es ist offensichtlich, dass dieses Duell passieren wird. Auf der Bahn wollen alle das Rennen gewinnen. Und nicht eine bestimmte Person besiegen. Ich denke, es gibt einen Antrieb für alle. 

Was haben Sie beide für ein Verhältnis?
Ich kenne sie ein bisschen weniger im Vergleich zu Sarah und Salomé, mit denen ich in der Gruppe trainiert habe. Ich erlebe sie als eine sehr ruhige Person. Wenn wir reden, sprechen wir vor allem über Bücher. Oder wir machen Spiele zusammen. Aber wir haben eine sehr ruhige Beziehung.

Sie war die Vorreiterin im Schweizer Sprint.
Absolut. Ich war immer inspiriert von den Frauen, die da vor mir waren. Ich vergesse nie mehr, als sie 2018 in Magglingen 7,03 rannte. Sie jubelte, und ich rannte immer noch. (lacht) Meiner Meinung nach haben wir diese Frauenbewegung im Schweizer Sprint, wie wir sie jetzt haben, wegen ihr. Sie hat allen gezeigt, dass es möglich ist, Medaillen zu gewinnen. Rekorde zu laufen. Ich habe viel Respekt vor ihr als Athletin und Person

Von Eva Breitenstein am 23. April 2021 - 06:00 Uhr