Jeden Tag crasht in Göteborg ein neues Auto: Im Volvo Cars Safety Centre will man herausfinden, wie und warum Unfälle und Verletzungen passieren, um diese mit Hilfe technischer Lösungen zu verhindern – und die sichersten Fahrzeuge der Welt zu produzieren. Schliesslich sterben jedes Jahr rund 1,19 Millionen Menschen weltweit bei Verkehrsunfällen. 20 bis 50 Millionen Menschen werden jährlich verletzt – viele davon schwer. Der grössere Anteil davon: Frauen.
Studien belegen, dass Frauen bei Unfällen ein 73 Prozent höheres Risiko für schwere Verletzungen und ein 17 Prozent höheres Risiko für tödliche Verletzungen haben als Männer. Leider ist das nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass in vielen gesetzlichen Zulassungsverfahren die Fahrzeugsicherheit immer noch anhand von Crashtest-Dummys mit männlicher Anatomie getestet wird.
Bei Volvo Cars untersucht man die Sicherheit von Fahrzeugen seit 1995 auch mit weiblichen Crash-Test-Dummys und entwickelte ausserdem den weltweit ersten virtuellen Crashtest-Dummy einer Schwangeren mittlerer Grösse. Das Computermodell beleuchtet die Bewegung der Insassen sowie die Art und Weise, wie der Sicherheitsgurt und der Airbag die Frau und den Fötus schützen. Gerade hat das schwedische Unternehmen zudem den weltweit ersten multiadaptiven Sicherheitsgurt für 2026 vorgestellt, der sich an unterschiedliche Passagiere und Verkehrssituationen anpasst.
Es tut sich einiges in der Branche – aber noch nicht genug. Wir haben mit Dr. Lotta Jakobsson, leitende technische Spezialistin für Verletzungsprävention bei Volvo Cars, über mangelnde Diversität in der Fahrzeugsicherheit gesprochen.
Dr. Lotta Jakobsson ist leitende Spezialistin für Verletzungsprävention bei Volvo Cars.
VolvoDr. Lotta Jakobsson: Es handelt sich weniger um Nachlässigkeit als vielmehr um eine Folge der früh gesetzten Schwerpunkte im Bereich der Crashtests. Die ersten Crashtest-Dummys aus den 1970er-Jahren basierten auf Daten von durchschnittlich grossen Männern, weil diese Daten damals schlichtweg am einfachsten verfügbar waren. Man hatte bereits seit den 1980er-Jahren Dummys in Frauengrösse zur Verfügung, verwendete sie aber meist nur auf dem Beifahrersitz und nicht in allen Tests. Generell ist anzumerken: Crashtest-Dummys sind hochentwickelte Prüfwerkzeuge. Sie müssen robust und immer wieder einsetzbar sein – also bei jedem Test gleich reagieren – damit sie zuverlässig zur Verbesserung der Fahrzeugsicherheit beitragen können. Zudem dauert die Entwicklung neuer Dummys in der Regel Jahrzehnte.
Alle Menschen sind unterschiedlich. Auch wenn es gewisse generelle Unterschiede zwischen Frauen und Männern gibt, ist die Variation innerhalb der weiblichen Bevölkerung ebenfalls gross. Genauso wenig kann ein standardisierter Dummy in Männergrösse die gesamte männliche Bevölkerung repräsentieren. Im Rahmen verschiedener Forschungsprojekte waren wir in den vergangenen Jahren an der Entwicklung neuer weiblicher Dummys beteiligt – sowohl virtueller als auch physischer Modelle. Allerdings hat bisher keines dieser Modelle den Status einer Standardisierung erreicht. Die verfügbaren, standardisierten Crashtest-Dummys in Frauengrösse sind die aus den Achtzigern. Bei Volvo Cars basieren unsere Sicherheitsentwicklungen seit über 50 Jahren auf der Auswertung realer Unfälle, in denen alle Menschen und Crash-Arten vertreten sind. Diese Arbeitsweise hat sich als erfolgreich erwiesen, um der Vielfalt in der Bevölkerung gerecht zu werden – trotz der Einschränkungen, die mit den derzeit verfügbaren Crashtest-Dummys einhergehen.
In den heutigen Volvo-Modellen gibt es zahlreiche Sicherheitssysteme, die speziell auf die weibliche Anatomie ausgerichtet sind. Darunter das Schleudertrauma-Schutzsystem WHIPS, welches das höhere Schleudertrauma-Risiko, dem Frauen aufgrund ihres Körperbaus ausgesetzt sind, halbiert. Das Seitenaufprall-Schutzsystem SIPS schützt den weiblichen Körper zusätzlich vor Brustverletzungen und reduziert das Risiko um mehr als 50 Prozent. Auch bei der Entwicklung der Kopf-Schulter-Airbags standen Frauen im Mittelpunkt.
Jeder Mensch verdient das gleiche Mass an Schutz – unabhängig von Körpergrösse, Gewicht, Alter oder Geschlecht. Wir unterstützen diese Idee ausdrücklich und bringen uns aktiv in die Weiterentwicklung von Sicherheitsstandards ein, einschliesslich der Frage nach mehr Inklusivität in Sicherheitstests und bei der Typgenehmigung von Fahrzeugen. Mehr Dummys in unterschiedlichen Grössen einzuführen, wird jedoch nie die gesamte Bandbreite der Bevölkerung abdecken können. Ausserdem sind Crashtest-Dummys stets eine vereinfachte Darstellung des menschlichen Körpers. Auch wenn gewisse Anpassungen möglich sind, wird ihr Design – insbesondere die Balance zwischen realistischer Abbildung und technischer Wiederverwendbarkeit – immer Kompromisse erfordern.
Wir gehen davon aus, dass es auch künftig nur eine begrenzte Anzahl an Dummy-Grössen geben wird und sehen die Zukunft tatsächlich nicht in der Entwicklung weiterer Modelle. Sie können zwar auf verschiedene Personentypen hin kalibriert werden, um etwa eine gebrechliche ältere Person im Vergleich zu einer kräftigen jungen Person darzustellen. Details wie Körperproportionen oder Unterschiede in der Sitzhaltung lassen sich hingegen besser durch virtuelle Menschmodelle abbilden. Sie bieten deutlich mehr Möglichkeiten, die Vielfalt körperlicher Eigenschaften realitätsnah zu erfassen. Diese sogenannten Human Body Models unterliegen nicht den technischen Einschränkungen, die bei Crashtest-Dummys notwendig sind, um Robustheit und Wiederholbarkeit zu gewährleisten. In der Fahrzeugentwicklung werden Human Body Models heute bereits ergänzend eingesetzt. Für standardisierte Tests, wie Typgenehmigung oder Verbraucherinformations-Tests, sind sie derzeit noch nicht zugelassen, aber es wird aktiv daran gearbeitet, dies in Zukunft zu ermöglichen.
Wir sind auf einem guten Weg, den wir konsequent weiterverfolgen sollten. Aktuell laufen viele Initiativen, in denen wir gemeinsam das Ziel verfolgen, die Sicherheit für alle zu verbessern. Dazu gehört die Zusammenarbeit im Rahmen von Standardisierungs- und Regulierungsprozessen – branchenübergreifend mit Industrie, Wissenschaft, politischen Entscheidungsträgern und weiteren Akteurinnen und Akteuren.
Was den Einsatz von Künstlicher Intelligenz in Crashtests betrifft, so stehen wir noch ganz am Anfang. Dennoch prüfen wir kontinuierlich neue Technologien und Methoden, und KI ist dabei definitiv im Fokus. Schon heute sehen wir vielversprechende Anwendungen von KI in anderen Bereichen der Sicherheitsentwicklung: etwa bei fortschrittlichen virtuellen Verkehrssimulationen mit Techniken wie Gaussian Splatting, eine relativ neue Methode zur Darstellung und Echtzeit-Visualisierung von 3D-Szenen, oder bei der Verbesserung der Interpretation von Ergebnissen durch Fahrzeugsensoren. Diese Werkzeuge helfen uns, besser auf spezifische Situationen zu reagieren und möglichst effektiven Schutz zu bieten. Die Erfassung von Daten wird auch in Zukunft ebenso wichtig sein wie heute – und wie sie es in der Vergangenheit bereits war. Die entscheidende Frage wird sein, wie man reale Bedürfnisse eruiert und die wichtigsten Erkenntnisse daraus in standardisierte Crashtests überführt.
Bei Volvo ist Sicherheit kein Versprechen, das erst im Ernstfall greift. Sie ist seit fast einem Jahrhundert von Anfang an mitgedacht – im Design, in der Technologie, in der Haltung. Für alle Menschen, in jeder Situation. Diese Idee prägt jedes Detail in unseren Fahrzeugen, aber auch unsere Philosophie – Sicherheit steht im Mittelpunkt unseres Handelns. Denn sie gibt den Menschen das gute Gefühl, sich auf das Leben konzentrieren zu können. Der vollelektrische Volvo EX90 führt diesen Gedanken weiter. Er ist dank der Safe Space Technology und dem integrierten Lidar-Sensor der bisher sicherste Volvo aller Zeiten – und bereit für alles, was vor uns liegt.