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Der ganz normale Wahnsinn

Gewalt hat in der Erziehung nichts zu suchen!

Mami schreit, Papi leert den Kindern Wasser über den Kopf und manchmal ziehen sie auch an Ohren und Haaren oder es rutscht ihnen die Hand aus. Das Video von Kinderschutz Schweiz, das auf Gewalt in der Erziehung hinweist, macht unsere Familienbloggerin nachdenklich. Und richtig schockierend findet sie manche Reaktionen darauf. 

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ZVG

Gut die Hälfte aller Schweizer Kinder haben schon mal körperliche Gewalt in der Erziehung erlebt. Das sagt eine Studie der Uni Fribourg. Offenbar scheint der Spruch «eine Ohrfeige hat noch keinem geschadet» noch tiefer in unseren Köpfen verankert zu sein, als ich gedacht habe.

Das bestätigt ein Blick auf die Reaktionen auf das Video von Kinderschutz Schweiz auf «20min.ch». «Das ist heutzutage Gewalt in der Erziehung? An den Ohren reissen und laut werden? Was war denn das, was ich als Kind zur Bestrafung bekommen habe?»  «Wenn ich sehe, wie der Sohn von Bekannten seinen Eltern auf der Nase herumtanzt, kommt man nicht darum herum zu denken, dass hie und da ein Klaps auf den Hintern wohl die bessere Wahl gewesen wäre.»  «Ich habe echt immer auf wirkliche Misshandlung in dem Video gewartet. Ok, Haare reissen und an den Ohren ziehen, nicht schön, aber davon trägt jetzt niemand wirklich Schaden davon. Und lautwerden ist doch eine gute Möglichkeit, sofern man es richtig einsetzt.»

Weder physisch noch psychisch

Ich bin sprachlos. Denn ich habe eine sehr klare Meinung zu dem Thema: Jede Form von schlagen, schubsen, an Haaren oder Ohren ziehen, kneifen, treten, oder was auch immer ist körperliche Gewalt und hat in der Erziehung nichts zu suchen. Und jede Form von verbaler Herabsetzung ist psychische Gewalt und hat in der Erziehung genauso wenig zu suchen. Das hat nichts mit «antiautoritär» zu tun. Im Gegenteil. Wer schlägt, schreit und an Ohren zieht, darf nicht mit dem Respekt seiner Kinder rechnen – und hat ihn auch nicht verdient.

Was viele von uns nicht verstehen – oder sich vermutlich gar nie überlegen: Kinder und Jugendliche sind keine kurzen Erwachsenen. Ihre Welt und ihre Hirne funktionieren anders als bei uns. Kein Kind schlägt, um jemandem weh zu tun, sondern weil es mit etwas überfordert ist. Das Kind im Gegenzug zu schlagen, um ihm zu zeigen, dass das weh tut, ist völliger Unsinn. Im Gegenteil: Das Kind sieht, dass auch die Eltern schlagen, wenn sie überfordert sind. Warum soll es also damit aufhören?

Kein Kind weigert sich, sein Zimmer aufzuräumen, weil es seine Eltern provozieren will

Kein Kind macht Blödsinn oder ist unkooperativ, um seine Eltern zu ärgern. Es hat Sirup auf den Teppich geleert, weil es so spannend war, zuzuschauen, wie das orange Wasser in den Stoff sickert, und nicht, um bewusst Eigentum seiner Eltern zu zerstören. Wie soll es kapieren, dass es deshalb an den Ohren gezogen wird? Kein Kind weigert sich, sein Zimmer aufzuräumen, weil es seine Eltern provozieren will. Es ist einfach so, dass es sich in seinem Schlag durchaus wohlfühlt, auch wenn da ein paar Sachen rumliegen, und sieht nicht ein, warum es sein eigenes Zimmer aufräumen soll, weil seiner Mutter die Unordnung nicht passt. Sie muss ja nicht dort schlafen. Und warum sie deswegen rumschreit, versteht es auch nicht.

Ein Kind muss verstehen

Womit wir beim Punkt wären: Das Kind muss verstehen, was passiert, sonst ist der erzieherische Wert gleich null. Und könnt ihr euch ein Kind vorstellen, das sagt: «Ich habe mein Zimmer nicht aufgeräumt, deshalb hat mein Vater mir eins runtergehauen. Das verstehe ich»? Wohl kaum. Und ja, ich finde, schreien geht auch in diese Kategorie. Zumal ich ein hypersensibles Kind habe, das schon auf Durchzug schaltet, wenn man ein bisschen laut redet. Schreien nützt weniger als nichts. Er hört nämlich nicht besser, was ich ihm sagen will, sondern ignoriert es komplett.

Und auch wenn Kinder keine kleinen Erwachsenen sind: Uns ginge es in ihrer Situation nicht anders. Stellen wir uns vor, wir haben im Job irgendwas verbockt. Vielleicht sogar extra. Vielleicht hatten wir einfach mal keinen Bock, etwas nach Vorschrift zu erledigen, das uns total sinnlos erschien. Der Chef, von dem wir ja in gewisser Art und Weise abhängig sind, schreit und macht uns nieder. Nicht schön. Und auch nicht besonders effektiv. Weder für die Situation noch fürs Verhältnis zueinander. Genauso fühlt sich ein Kind, wenn es angeschrien wird. Geschweige denn geschlagen oder an den Haaren gezogen. Von den Leuten, die es eigentlich lieben und beschützen sollten.

Konsequenzen ja, Gewalt nein

Nein, ich finde nicht, dass jedes Tun und Lassen meiner Kinder ohne Konsequenzen bleiben soll. Aber diese Konsequenzen dürfen niemals körperlich oder seelisch gewalttätig sein. Man mag den Kaninchen-Käfig nicht ausmisten? Dann ziehen die Kaninchen in den Keller. Man findet Hausaufgaben unnötig? Nun, ich finde die PS und den Nachmittag auf dem Eisfeld unnötig. Man findet, man kann zu Hause mit den Eltern so reden wie mit den Kumpels? Dann müssen wir uns nochmal über die Höhe des bedingungslosen Grundeinkommens – sprich: Taschengeldes – unterhalten.

Natürlich wird’s auch bei uns mal laut. Natürlich habe ich zu meinen Kindern auch schon Sachen gesagt, die ich nachher bereut habe. Aber meine Kinder sind jetzt 14 und zwölf Jahre alt, und, wie ich finde, gar nicht so übel. Und dies, obwohl – nein, weil! – sie niemals körperliche oder seelische Gewalt von ihren Eltern erfuhren.

am 22. November 2018 - 15:10 Uhr, aktualisiert 21. Januar 2019 - 01:25 Uhr