Seit Mitte März werden alle Schweizer Schulkinder nun zu Hause unterrichtet, und die Verunsicherung bei den Eltern ist riesig. Helfe ich zu wenig? Helfe ich zu viel? Lernt mein Kind genug? Lernt es überhaupt etwas? Was, wenn dieser Zustand länger anhält? Wie wirkt sich das auf die Noten aus? Die Lehrstellensuche, die Zukunft, das Leben?
Das führt zu Vorschlägen wie dem von Sarah Knüsel, Präsidentin des Zürcher Schulleiterverbandes, alle Kinder ein Jahr zurückzusetzen, falls die «Corona-Pause» bis zu den Sommerferien dauern sollten. «Die ganze Welt muss jetzt einen Gang zurücksetzen», sagt sie in einem Interview mit der NZZ. Auch wenn Frau Knüsel mit ihrer Aussage eigentlich vor allem Druck von den Eltern nehmen wollte, stört mich etwas ganz gewaltig daran.
Der Vorschlag suggeriert genau das Gegenteil davon, «einen Gang zurückzusetzen.» Für mich sagt er nämlich Folgendes: «Uns wurde mitten im Marathon ein Bein gestellt. Shit happens, bleiben wir halt ein Weilchen liegen. Aber wenn wir wieder aufgestanden sind, rennen wir genauso schnell weiter. Oder noch schneller.»
«Wenn wir jetzt nicht schnallen, dass eine Note zwischen eins und sechs nichts darüber aussagt, ob ein Kind später erfolgreich sein wird oder nicht – wann dann?»
Wenn jetzt nicht der Zeitpunkt ist, sich zu überlegen, ob man nicht vielleicht einfach mal ein bisschen Tempo rausnimmt aus diesem System – wann dann? Wenn wir uns jetzt nicht überlegen, ob unsere Kinder wirklich neun Jahre lang Wissen in fünfzehn Fächern in ihren Kopf stopfen müssen – wann dann? Wenn wir jetzt nicht draufkommen, dass es wichtigere Skills gibt im Leben als alle Hauptstädte Europas auswendig zu kennen – wann dann? Wenn wir jetzt nicht schnallen, dass eine Note zwischen eins und sechs nichts darüber aussagt, ob ein Kind später erfolgreich sein wird oder nicht – wann dann? Und wenn wir jetzt nicht merken, dass Erfolg total relativ ist – wann dann?
Plötzlich merken wir, dass auch andere Talente wichtig sein könnten als Stillsitzen und Auswendiglernen. Ich sehe zum Beispiel ein Kind, das viel effizienter arbeitet, weil es fast alle Aufgaben online erledigen kann. Was bedeutet, dass er nicht von Hand schreiben muss – für ihn ein Riesenkrampf.
Ich sehe einen Buben, der bei Aufsätzen zu irgend einem philosophischen Thema jeweils kaum sieben Sätze hinkriegt, und jetzt mit Begeisterung kocht und ausführlich Tagebuch darüber führt. Ich sehe einen Jungen, der – entgegen meiner Erwartungen – bisher noch keine Präsenzzeit und keinen Abgabetermin verpasst hat (meines Wissens nach). Und ich sehe Lehrpersonen, die wirklich kreative Aufgaben stellen, um die Kids ein bisschen bei Laune zu halten.
«Die Erfahrung, dass so gut wie nichts selbstverständlich ist, wird unsere Kinder vermutlich mehr prägen, als jede auswendig gelernte Matheformel. Machen wir was draus!»
Unsere Kinder machen dieser Tage eine extreme Erfahrung – nämlich die, dass so gut wie nichts selbstverständlich ist. Dass sich unbeschwert draussen bewegen zu können genauso ein Privileg ist, wie seine Freunde besuchen zu dürfen. Und dass sogar zur Schule zu gehen nicht selbstverständlich ist. Diese Erfahrung wird sie vermutlich mehr prägen, als jede auswendig gelernte Matheformel. Machen wir was draus!
Mehr von Familien-Bloggerin Sandra C. lest ihr hier.