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Der ganz normale Wahnsinn

«Du kannst alles werden, was du willst!»? Bullshit!

In ihrem letzten Beitrag thematisierte Sandra C. den schulischen Druck, dem Eltern und Kinder im Hinblick auf die Oberstufe ausgesetzt sind. Dass beide ihre Kinder vollkommen unrealistische Berufsziele haben, macht das Ganze auch nicht einfacher für die Familienbloggerin. 

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ZVG

Als mein Sohn klein war, hatte er ein erklärtes Berufsziel: Er wollte Pistenbully-Fahrer werden. Die Fahrzeuge, die abends in den steilen Pisten hingen, faszinierten ihn. Und wenn die Pisten vor unserem Haus in den Bergen präpariert wurden, konnte er jeweils kaum still sitzen, und flitzte von Fenster zu Fenster, um ja nichts zu verpassen.

Unrealistische Berufswünsche

Ein toller Berufswunsch, fand ich damals. Und wünschte mir heute eigentlich, er wäre dabei geblieben. Aber irgendwann im Verlauf der Jahre wurde für ihn klar: «Ich werde Fussball-Profi.» Einen Plan B hat er nicht. «Ja klar. Du kannst alles werden, was du willst», sagt man dann einem kleinen Kind. In der Hoffnung, dass sich das Kind irgendwann bewusst wird, dass der Traumberuf wohl ein Traum bleiben wird und es sich zwei, drei realistischere Alternativen überlegen müsste, was seine berufliche Zukunft betrifft.

In der Hoffnung, dass sich das Kind irgendwann bewusst wird, dass der Traumberuf wohl ein Traum bleiben wird

Aber was, wenn nicht? Was, wenn der Bub kurz vor dem Übertritt in die Oberstufe noch immer zu tausend Prozent überzeugt ist, dass er von einem Scout entdeckt wird, obwohl er es nicht mal in die erste Mannschaft seines Fussballclubs geschafft hat? Wenn er sein totales schulisches Desinteresse damit begründet, das brauche er später als Fussballprofi alles nicht. Und Neymar sei nämlich überhaupt nicht zur Schule gegangen (was ich zu bezweifeln wage).

Wann ist der Zeitpunkt gekommen, seinem Kind zu sagen, dass es ziemlich sicher nicht reichen wird für die Karriere, die es sich erträumt? Dass, selbst dann, wenn er der beste Nachwuchsspieler des Landes wäre, ungeheures Glück dazu gehören müsste, entdeckt zu werden. Und dass seine Zukunft nicht davon abhängen kann, mehr als einmal zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein.

Mit einer Castingshow zum Weltstar

Bei meiner Tochter ist die Lage ähnlich, wenn auch nicht ganz so hoffnungslos. Sie hat tolle Noten und ist sprachlich und auf sozialer Ebene dermassen begabt, dass ihr viele Türen offenstehen werden, auch wenn sie kein Gymi macht. Nur interessiert sie das momentan sehr oberflächlich. Ihr erklärtes Ziel: Sie will – nein, sie muss! – Sängerin werden. Und dafür braucht man ja nur eine Castingshow zu gewinnen. Oder auf Youtube entdeckt zu werden. So schwierig kann das ja nicht sein, wenn man regelmässig Gesangsstunden nimmt und schon mal eine Musical-Rolle ergattert hat. Jedes Mal, wenn ich leise Zweifel anmelde und zu bedenken gebe, dass ich es nicht ganz so falsch fände, sich eine Alternative zu überlegen, wird sie wütend: «Du glaubst nicht an mich! Du unterstützt mich nicht!»

Das stimmt so nicht. Ich pushe sie nicht, weil ich finde, das ist ihr Ding. Ich erlaube ihr, zu Castings zu gehen, und fahre sie zu Proben, wenn sie eine Rolle landet. Ich zahle ihre Gesangs- und Musical-Stunden. Weil ich sehe, dass es sie glücklich macht, dass sie ihre Stimmungen ausdrückt und Dinge verarbeitet, indem sie singt und Klavier spielt. Und auch wenn ich ihr ein gewisses Talent nicht abspreche, gilt auch für eine Musikkarriere: Talent ist nur ein Bruchteil. Es braucht verdammt viel Glück und Durchhaltewillen, um etwas zu erreichen. Und einen akzeptablen Plan B, falls man scheitert.

Es braucht verdammt viel Glück und Durchhaltewillen, um etwas zu erreichen. Und einen akzeptablen Plan B, falls man scheitert.

Noch sind beide meine Kinder nicht willens, über einen solchen Plan B nachzudenken. Aber kürzlich gab es einen Lichtblick: Mein Sohn fragte, was man tun müsse, um Handyverkäufer zu werden. «Du willst Handyverkäufer werden?», fragte ich. Er: «Ja. Weil jedes Mal, wenn ein neues iPhone rauskommt, stehen die Leute Schlange, und dann verdiene ich megaviel tausend Franken an einem einzigen Tag. Und damit kaufe ich mir dann einen Fussballklub.» Tja – offenbar gibt es tatsächlich mehrere Wege, um Träume wahr zu machen. Man muss nur wissen, welche!

am 27. September 2018 - 13:45 Uhr, aktualisiert 21. Januar 2019 - 01:25 Uhr