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Der ganz normale Wahnsinn

«Ich bin noch auf so viel wütend!»

Vor einem Jahr gingen eine halbe Million Frauen in der Schweiz auf die Strasse, um für Gleichberechtigung zu kämpfen. Auch vergangenes Wochenende wurde wieder protestiert. Zurecht, sagt unsere Familienbloggerin. Denn Sexismus gehört leider noch lange nicht der Vergangenheit an.

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Impressionen der Grosskundgebung, die Frauen treffen sich beim Central und laufen Richtung Helvetiaplatz anlaesslich den Frauenstreik, am Freitag, 14. Juni 2019, in Zuerich. (KEYSTONE/Melanie Duchene)

Am 14. Juni 2019 gingen in der Schweiz eine halbe Million Frauen auf die Strasse. Gleichstellung herrscht in unserem Land leider nach wie vor nur auf dem Papier. 

Keystone

Als ich etwa im Alter meiner Tochter war, war hierzulande ein Song in den Charts mit Textzeilen wie «Keine Widerrede, Mann, weil ich ja sowieso gewinn, weil ich ein Mädchen bin», oder «Mir gehts so gut. weil ich ein Mädchen bin.» Meine Freundinnen und ich sangen die Zeilen lauthals mit, in der festen Überzeugung, dass es genauso war, wie wir sangen. Sexismus war damals etwas, das in unseren Augen unsere Mütter betroffen hatte. Aber uns doch nicht.

Ich war so naiv!

Heute schäme ich mich fast ein bisschen für meine Ignoranz von damals, auch wenn man sie einem Teenager eigentlich nicht vorwerfen kann. Natürlich wusste ich, dass meine Mutter zu dem Zeitpunkt, als sie volljährig wurde, gerade mal so knapp wählen durfte. Aber das betraf mich doch nicht. Oder?

«Mehr oder weniger bis kurz vor der Geburt meines ersten Kindes hätte ich mich mit einer Abtreibung strafbar gemacht»

Unglaublich, wie naiv ich war. Unglaublich, dass ich so viel nicht schnallte. Zum Beispiel war am Tag, als ich zur Welt kam, die Gleichstellung der Geschlechter noch nicht mal in der Bundesverfassung verankert. Als ich meinen 16. Geburtstag feierte, war Vergewaltigung in der Ehe nicht strafbar. Als meine Eltern sich scheiden liessen, hing das Recht meiner Mutter auf Unterhaltszahlung davon ab, ob das Gericht sie als «schuldig» am Scheitern der Ehe befand oder nicht.

Mehr oder weniger bis kurz vor der Geburt meines ersten Kindes hätte ich mich mit einer Abtreibung strafbar gemacht. Als meine Tochter vor 16 Jahren zur Welt kam, gab es keinen staatlich finanzierten Mutterschaftsurlaub. Und ich hatte den Nerv zu singen: «Mir geht’s so gut, weil ich ein Mädchen bin»? Unfassbar.

In der Verfassung verankert – aber nicht in den Köpfen

Aber heute – heute ist doch alles anders. Seit 1981 ist die Gleichstellung der Geschlechter in der Bundesverfassung verankert. Seit 1992 gilt das neue Sexualstrafrecht, seit 2000 das Scheidungsrecht. 2002 wurde die Fristenregelung eingeführt, 2004 der Erwerbsersatz bei Mutterschaft. Alles gut, oder? Kein Grund mehr, auf die Strasse zu gehen.

«Es macht mich wütend, dass ihre Chance, über 8000 Franken im Monat zu verdienen, halb so hoch ist wie die eines Mannes – dies, obwohl es fast 10 Prozent wahrscheinlicher ist, dass sie einen Hochschulabschluss macht»

Schön wärs. Fast 40 Jahre, nachdem die Gleichstellung ihre Verankerung in der Verfassung fand, ist das in unserer Gesellschaft und in unseren Köpfen noch immer nicht passiert. Stereotype und Diskriminierung sind an der Tagesordnung, Sexismus lange nicht etwas, das vergangenen Zeiten angehört. Im Gegenteil. Und das macht mich wütend.

Von Lohnungleichheit bis zu Femizid

Es macht mich wütend, dass die Gefahr, dass meine Tochter Opfer von häuslicher Gewalt wird, dreimal so hoch ist wie die für einen Mann. Es macht mich wütend, dass sie dereinst fast 20 Prozent weniger verdient als ihre männlichen Kollegen. Es macht mich wütend, dass ihre Chance, über 8000 Franken im Monat zu verdienen, halb so hoch ist wie die eines Mannes – dies, obwohl es fast 10 Prozent wahrscheinlicher ist, dass sie einen Hochschulabschluss macht.

«Es macht mich wütend, dass in unserem Land jedes Jahr im Schnitt 25 Femizide stattfinden – also Morde an Frauen, WEIL sie Frauen sind. Es macht mich sogar wütend, dass es überhaupt ein Wort für sowas geben muss.»

Es macht mich wütend, dass in der Schweiz jede fünfte Frau sexuelle Handlungen gegen ihren Willen erlebt. Es macht mich wütend, dass in unserem Land jedes Jahr im Schnitt 25 Femizide stattfinden – also Morde an Frauen, WEIL sie Frauen sind. Es macht mich sogar wütend, dass es überhaupt ein Wort für sowas geben muss.

Es gibt noch richtig viel zu tun in diesem Land, bevor die Songzeile «Mir geht’s so gut, weil ich ein Mädchen bin» auch nur halbwegs Sinn macht. Packen wir's an!

Mehr von Familien-Bloggerin Sandra C. lest ihr hier.

 

Familienbloggerin Sandra C.
Sandra CasaliniMehr erfahren
Von Sandra Casalini am 20. Juni 2020 - 18:09 Uhr