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Der ganz normale Wahnsinn

Offener Brief an die konservative Schweizer Jugend

Für die Jugendstudie ch-x haben Forscher 50'000 Schweizer Jugendliche im Durchschnittsalter von 19 Jahren zu ihren Lebens- und Zukunftsvorstellungen befragt. Dabei kam heraus, dass eine Mehrheit der Befragten ein traditionelles Familienmodell für erstrebenswert hält: Der Mann ist der Ernährer, die Frau schaut zu Haushalt und Kindern, verdient höchstens ein kleines Zubrot. Zeit für ein paar offene Worte von Familienbloggerin Sandra C. an diese jungen Frauen und Männer.

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Mutter mit Kind am Herd

Symbolbild: Eine Mehrheit der 50'000 Befragten hält ein traditionelles Familienmodell für erstrebenswert.

Keystone

Liebe Schweizer Jugend,

ich muss zugeben, ich bin ein bisschen schockiert über das Ergebnis dieser Studie. Schockiert und frustriert. Es tritt alles, woran ich glaube, und wofür ich für die Zukunft meiner Kinder hoffe, mit Füssen.

Was aus der Studie nicht hervorgeht, ist, warum ihr offenbar eine so romantische Vorstellung vom traditionellen Familienbild habt. Wer vermittelt euch die? Oder ist es vielleicht umgekehrt so, dass euch die Vorstellung davon, Familie und Karriere unter immer noch schwierigen Bedingungen zu vereinen, Angst macht? Und euch demnach der Gedanke an eine klare – traditionelle – Rollenverteilung Sicherheit vermittelt? Lasst euch nicht blenden.

Liebe junge Frauen. Die Vorstellung davon, ganz in der Rolle der liebenden Mutter und Ehefrau aufzugehen, für die Allerliebsten, die man hat, alles «Egoistische» aufzugeben, mag romantisch sein. Leider hat die Realität – jedenfalls nach einer gewissen Zeit – selten noch viel mit Romantik zu tun. Ihr habt die Schule und eine Ausbildung abgeschlossen, habt vermutlich vor der Familiengründung eigenes Geld verdient. Sorry – aber findet ihr den Gedanken, vom Geld zu leben, das jemand anders verdient, nicht abschreckend? Klar, das ist ein Deal – der Mann verdient das Geld, die Frau hält ihm den Rücken frei, erzieht seine Kinder. Sie ist also sozusagen seine Angestellte. Schon das allein hat meiner Meinung nach nichts mehr mit Romantik zu tun. Ist es das, was ihr wirklich wollt? Zumal mit jedem Jahr, in dem ihr nicht oder nur sehr wenig arbeitet, erstens eure Altersvorsorge schwindet, und es zweitens, schwieriger wird, irgendwann wieder in den Job zurückzukehren.

Sorry – aber findet ihr den Gedanken, vom Geld zu leben, das jemand anders verdient, nicht abschreckend?

Kinderhaben ist grossartig, und ich finde es auch schwierig, wenn Kinder zu «Accessoires» verkommen, die man nur dann um sich hat, wenns gerade passt. Das gilt aber für beide Elternteile. Ein Kind ist sozusagen ein Gemeinschaftsprodukt seiner Eltern, also ist es doch auch nur fair, wenn sich beide Rechte und Pflichten teilen. Bei einer traditionellen Rollenverteilung wird der Vater im besten Fall nur zum gelegentlichen «Mitspieler» in Sachen Kindererziehung. Die Frau trägt die ganze Verantwortung und muss für alles herhalten, was eben nicht ganz so toll ist am Kinderhaben. Der Mann verpasst viel von dem, was eben toll ist am Kinderhaben. Und das Kind wird eines wirklich präsenten Vaters – und Vorbildes – beraubt. Ist es das, was ihr wirklich wollt?

Denkt ans Älterwerden

Kinder werden älter. Und das, was euer Lebensinhalt war – das Gebrauchtwerden von der Familie – schwindet schneller, als euch lieb ist. Eine Scheidungsrate von fast 50 Prozent spricht ebenfalls eine klare Sprache. Und wenn ihr nicht mehr Ehefrau und nicht mehr Mami seid – wer seid ihr dann? Klar, Mami seid ihr immer. Aber glaubt mir, der Moment, in dem ihr erkennt, dass eure Kinder euch nicht mehr in dem Mass brauchen, in dem ihr euch das erträumt habt, und in dem ihr eigentlich immer noch zu geben bereit seid, ist hammerhart. Aber er kommt. Unausweichlich. Und je mehr ihr euch auf die Familie konzentriert habt, desto härter trifft er euch. Und glaubt mir, es gibt kein beschisseneres Gefühl, als das, niemand (mehr) zu sein. Ist es das, was ihr wirklich wollt?

Und wenn ihr nicht mehr Ehefrau und nicht mehr Mami seid – wer seid ihr dann?

Liebe junge Männer. Vielleicht es tatsächlich so, dass eine Mutter das Kinderhaben ein bisschen anders wahrnimmt als ein Vater. Für sie stehen die Kinder immer an erster Stelle, während für ihn oft anderes genauso wichtig ist. Trotzdem: Der Moment, in dem ihr euer eigenes Baby zum ersten Mal im Arm haltet, wird auch für euch der schönste im Leben sein. Euer Kind ist ein Teil von euch, und es gibt nichts Schöneres, diesen Teil von sich selbst (auf)wachsen zu sehen und durchs Leben zu begleiten. Wollt ihr an diesem Leben wirklich nur am Rande teilnehmen anstatt es durch eure Präsenz im Alltag aktiv zu mitzugestalten? Ist es das, was ihr wirklich wollt?

Ihr habt euch in eine Frau verliebt und zwar so sehr, dass ihr mit ihr eine Familie gründen wolltet. Dass ihr alles miteinander teilt, und sogar einen oder mehrere kleine Menschen geschaffen habt, die je zur Hälfte eure Gene in sich haben. Ihr könnt das mit 19 Jahren noch nicht wissen, aber Liebe und eine Beziehung sind zwei verschiedene Paar Schuhe. Liebe ist einfach. Man liebt und wird geliebt. Oder eben nicht. Eine Beziehung ist etwas vom Schwierigsten, das es gibt. Und Kinder machen sie nicht einfacher. Eine Beziehung basiert auf Respekt und erfordert immer wieder Kompromisse. Die Frau, in die ihr euch verliebt habt, wird nicht die gleiche bleiben. So oder so nicht.

Der Gedanke, dass sie ihre Karriere – und vielleicht auch ein kleines Stück von sich selbst – für euch aufgibt, mag euch romantisch erscheinen. Aber überlegt euch mal, was das für eure Beziehung heisst. Ihr seid keine gleichberechtigten Partner mehr – auch wenn ihr euch das einredet. Sie ist finanziell von euch abhängig, ihr habt in Sachen Haushalt und Erziehung eurer eigenen Kinder nicht viel zu melden.

Ihr lebt euren Alltag in unterschiedlichen Welten und es braucht doppelt so viel Aufwand und Interesse am anderen, um halbwegs nachvollziehen zu können, was den anderen beschäftigt oder auch mal bedrückt. Und damit auch doppelt so viel Aufwand, damit im Laufe der Jahre der Respekt voreinander nicht verloren geht – und das ist so schon verdammt schwierig. Ich sage nicht, dass das nicht klappen kann. Aber ich glaube, es ist noch schwieriger als wenn man sich die Dinge mehr oder weniger gleichberechtigt aufteilt. Ist es das, was ihr wirklich wollt?

Liebe jungen Frauen und Männer. Überlegt euch das doch noch mal. Überlegt euch, ob ihr es aufgrund von romantischen Vorstellungen versäumen wollt, für Gleichberechtigung zu kämpfen. Das wird euch selbst nämlich am meisten (be)treffen. Irgendwann sitzt ihr in veralteten Strukturen fest, die plötzlich gar nicht mehr so romantisch sind, wie ihr euch das vorgestellt habt. Ist es das, was ihr wirklich wollt?

am 2. November 2017 - 16:46 Uhr, aktualisiert 21. Januar 2019 - 01:27 Uhr