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Der ganz normale Wahnsinn

Offener Brief an Toni Bortoluzzi

Eigentlich wollte Sandra C. einen hübschen Adventsblog schreiben. Aber dann kam ihr die Broschüre von Ex-Nationalrat Toni Bortoluzzi «Verein Schutzinitiative» unter die Augen, in der gegen familienergänzende Kinderbetreuung mobil gemacht wird: «Glückliche Kinder werden zu Hause erzogen, nicht in der Kita»… 

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ZVG

Lieber Toni Bortoluzzi,

Sie haben mich wirklich zum Lachen gebracht mit dieser Broschüre. Denn ernst meinen können Sie diesen Schwachsinn ja kaum. Oder wollen Sie behaupten, dass Sie wirklich glauben, dass mit jedem Monat, den ein Kind in einer Kita verbringt, sein IQ im Alter von acht bis 14 Jahren abnimmt? Selbst wenn eine italienische Studie das sagt – mit ein bisschen Googeln finden Sie Dutzende andere, die das Gegenteil berichten. Das haben Studien im Allgemeinen so an sich – abgesehen davon, dass sie meistens noch Auslegungssache sind. Aber man nimmt halt, was man kriegen kann, um die eigenen Ansichten zu untermauern, gell. 

Der Intelligenzquotient ist eine Kerngrösse zur Bewertung des intelligenten Leistungsvermögens

Nun ist es ja nicht zwingend so, dass Glück etwas mit dem IQ zu tun hat. Wäre ich ein «Bhaupti» wie Sie, würde ich sogar sagen, dümmere Leute sind glücklicher. So oder so – selbst wenn «Ihre» seltsame Studie recht hätte, wären also Kita-Kinder zwar dümmer, was sie aber nicht unbedingt unglücklicher machen würde. Aber eben – ich wage es wirklich, diese Studie vehement anzuzweifeln. Der Intelligenzquotient ist eine Kerngrösse zur Bewertung des intelligenten Leistungsvermögens. Zwar geht man mittlerweile – im Gegensatz zu früher – tatsächlich davon aus, dass sich dieser im Laufe des Lebens ändern kann. Dies geschieht aber vor allem in der Pubertät – also NACH der von Ihnen genannten Zeitspanne.

Man geht davon aus, dass sich Intelligenz bis zu einem gewissen Punkt trainieren lässt, so wie körperliche Fitness. Ihren Behauptungen zufolge würde das also bedeuten, ein Kind, das ausschliesslich zu Hause von einer oder zwei Personen betreut wird, trainiert seine Intelligenz mehr als eines, das ein- oder mehrmals pro Woche mit den verschiedensten Leuten in Kontakt kommt. Kann natürlich sein dass die eigenen Eltern Intelligenzbestien und das gesamte Kita-Betreuungspersonal Idioten sind. Wer weiss das schon. 

Eine Vierzimmerwohnung unter 2000 Franken pro Monat zu finden, ist ein Glücksfall

Aber nehmen wir wirklich an, Ihre Behauptung bezüglich des IQs wäre wahr. Dann haben wir ein echtes Problem: Die Realität! Vielleicht ist es Ihnen entgangen, aber im Jahr 2018 leben die meisten Kinder in einer Kleinfamilie, in der Grosseltern, Tanten, Onkel und so weiter nicht mehr so einfach für die Kinderbetreuung daheim zur Hand sind. Dazu kommt, dass diese Kinder im Jahr 2018 viel Geld kosten. Richtig viel Geld. 820 Franken im Durchschnitt. Pro Kind. Pro Monat. Und das sind nur die direkten Kosten.

Als ehemaliger Besitzer einer Schreinerei dürfte Ihnen bewusst sein, dass ein Schreiner im Kanton Zürich monatlich etwa 5000 Franken verdient. Wenn er zwei Kinder hat, wäre eine Vierzimmerwohnung von Vorteil. Eine unter 2000 Franken pro Monat zu finden, ist ein Glücksfall. Wir sind also schon bei über 3500 Franken – ohne Krankenkasse der Eltern und Versicherungen. Man rechne. Als «normaler» Schreiner hätten Sie sich Ihre vier Kinder ohne ein zweites Einkommen nicht leisten können, Herr Bortoluzzi. Natürlich macht Geld nicht glücklich. Und ich wünschte wirklich, das Glück meiner Kinder würde ausschliesslich von meiner Präsenz abhängen. Aber ob ein Kind, das am Existenzminimum lebt, ohne Ferien, ohne Handy (ab einem gewissen Alter), ohne Musik- oder Sportkurse, ohne Teilnahme an Schulausflügen, wirklich glücklicher ist als eines, das ein oder zwei Tage pro Woche in der Kita ist, bezweifle ich stark.

Umso skandalöser ist es, dass es hierzulande so wenige bezahlbare Kita-Plätze gibt. Dass Bund und Kantone dafür nicht in die Tasche greifen wollen, ist genauso unverständlich wie kurzsichtig. Für alle, die finden, das sei zu teuer, hätte ich auch noch ein paar Zahlen: In unserem Land gibt es 50'000 Frauen, die studiert haben und nicht im Erwerbsleben sind, weil sie ihre Kinder zu Hause betreuen. Ein Studienjahr kostet Bund und Kantone im Schnitt 23'000 Franken. Sie geben also rund 5,75 Milliarden für die Ausbildung dieser Frauen aus. Ich gehe nicht davon aus, dass diese sich vor und während ihrem Studium nichts sehnlicher gewünscht haben als ein Leben als Mutter und Hausfrau. Die meisten werden nach der Geburt gemerkt haben, dass es mit den hiesigen Strukturen verdammt schwer ist, Familie und Job unter einen Hut zu kriegen. 

Eine Kita erfüllt auch nicht diesen Zweck - sie ergänzt die Betreuung durch die Eltern

Ich bin auch der Meinung, dass nichts eine liebevolle Betreuung durch die Eltern ersetzen kann. Eine Kita erfüllt auch nicht diesen Zweck – sie ergänzt die Betreuung durch die Eltern. Ausserdem hätte ich noch ein paar Vorschläge, wie Eltern tatsächlich mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen könnten: Bezahlte Elternzeit nach der Geburt für Mütter und Väter zum Beispiel, oder flexible Arbeitsmodelle, bei denen man nicht von 8 bis 18 Uhr im Büro hocken muss, sondern es sich so einrichten kann, dass man sich die Betreuung der Kinder so einteilen kann, wie das für einen passt, ohne finanzielle Einbussen. 

Ach, und noch was Kleines am Rande. Meine Tochter verbrachte bis zu ihrem 6. Lebensjahr zwei Tage pro Woche in der Kita. Sie ist heute 14 Jahre alt und unter den Klassenbesten. Vielleicht hat sie ja gescheites Betreuungspersonal und blöde Eltern erwischt.

Mit freundlichen Grüssen

Sandra C.

 
am 13. Dezember 2018 - 18:10 Uhr, aktualisiert 21. Januar 2019 - 01:25 Uhr