1. Home
  2. Blogs
  3. Notabene
  4. Notabene von Chris von Rohr: «Anders, als man lenkt»

Notabene von Chris von Rohr

«Anders, als man lenkt»

Musiker, Produzent und Autor Chris von Rohr stellt sich in seiner Kolumne die Frage, ob unser Leben vorbestimmt ist.

Artikel teilen

Three identical triplet brothers

Das Experiment aus den 60-er Jahre: «Drei gleiche Fremde.»

Getty Images

Unzählbar viele Male schon dachte ich im Lauf meines Lebens, jetzt hätte ich die finale Erkenntnis über mich oder das Leben im Allgemeinen gewonnen. «Chutzemischt!» hätte meine Mutter gerufen. Es ging immer weiter mit den An- und Einsichten, sie relativierten sich, und es kamen neue dazu. Einmal las ich, der Kopf sei deswegen rund, damit die Gedanken kreisen und ihre Richtung ändern könnten.

Es ist extrem spannend, die Lebenswege der Menschen mitzuverfolgen. Aus diesem Grund lese ich sehr gerne die Biografien von Erdenbewohnern mit bemerkenswerten Werdegängen. Einige von uns haben deutlich mehr Dusel oder Pech als andere. Auch Optimismus, Mut und Geduld sind individuell dosiert in uns allen drin. Dies führt zu ganz differenten Lebensläufen. Wie viel davon ist Anlage, gegeben, und welchen Anteil glauben wir, selbst erworben und mitbestimmt zu haben?

Ist unser Leben vorbestimmt?

Am Ende meiner unseligen Schulzeit hätte ich alles vehement abgestritten, was nur angedeutet hätte, dass gewisse Erfahrungen, die ich sammeln werde, vorprogrammiert seien durch meine Gene, Erziehung oder das mir zugeteilte Schicksal. Schliesslich war ich jetzt – ein bisschen aufgerundet betrachtet – erwachsen und zweifelsfrei in der Lage, meine Entscheidungen bewusst zu treffen.

Dazu war ich gerade sehr damit beschäftigt, mich aus allen Konventionen und Zwängen zu schälen und zu winden – weshalb sollte ich also auf vorgespurten Geleisen unterwegs sein? Das ergab absolut keinen Sinn in meinen tollkühnen Augen. Doch meistens läuft es anders, als man lenkt. Ich wollte mit dem Kopf durch die Wand und musste dabei vereinzelt konstatieren, dass die Wand härter war als ich. Irgendwann erklärte mir Hermann Hesse in seinem «Demian» die Schicksalsbereitschaft und was «werde, wer du bist» bedeutet. Du bist und bleibst der Solothurner Giel vom klimatisch harten Jurasüdfuss ...

Sohn des Adolf und der Margrit. Und die eine oder andere meiner Marotten hatte genau dort ihren Ursprung.

Das typische Beispiel der Frauen die sich bei ihrem Partner nach ihrem Vater richten

Viele Lebensgeschichten gleichen sich. Die typischste ist für mich diejenige von Frauen, die einen bösartigen Vater hatten. Einen, der sie vergnüglich blossstellte, erniedrigte und verprügelte. Meist heiraten solche Frauen sehr jung, leiden jedoch unter der Kälte und Härte in ihrer Beziehung und trennen sich wieder. Pech gehabt, denken sie sich. Manchmal passt es eben nicht. Umgehend geraten sie wieder in eine Beziehung, in der sie leiden. Vielleicht lernen sie zwar den einen oder anderen liebenswürdigen Bewerber kennen, jedoch – der Funke will nicht springen, das Mitgefühl oder der Trost von einem noch fast Unbekannten kommt ihnen suspekt vor, und sie bleiben an dem Typen hängen, der ihre Seele und oft auch ihren Körper foltert.

So geht dies bis zum Kollaps weiter, und manche erkennen erst nach Jahrzehnten mithilfe von Therapeuten das Muster, das sich pfeilgerade durch ihre Beziehungsgeschichten zieht.

Viele dieser Frauen sind stark, beissen sich beruflich durch, managen ihr Leben, engagieren sich vielseitig, bleiben niemandem etwas schuldig, fürchten weder Aufwand noch Verantwortung. Nur –  zu sich selber zu schauen, dazu sind sie nicht in der Lage. Wie lächerlich bescheiden kann die Kraft unseres Willens sein, wenn offene Rechnungen auf der Seele liegen!

«Drei gleiche Fremde»

Um dies und noch vieles mehr auf diesem Gebiet zu erforschen, nahm sich Anfang der 60er-Jahre ein amerikanischer Psychiater das Recht heraus, halbjährige Drillingsbrüder zu trennen und sie drei gezielt ausgewählten, völlig unterschiedlich situierten Familien einzeln zur Adoption anzubieten. Die Brüder verloren die Erinnerung aneinander, wurden fleissig untersucht, gefilmt und jeder ihrer Entwicklungsschritte dokumentiert. Dass sie an einem umfangreichen Experiment teilnahmen, ahnte niemand. Irgendwann trafen sie sich zufällig wieder. Es wurde der aufwühlende Dokumentarfilm «Drei gleiche Fremde» über sie gedreht. Dass die Gene und das Milieu, in dem wir uns befinden, sich einen permanenten Machtkampf liefern, ist das Fazit am Ende dieser Tragödie.

Es ist auch Fakt, dass die grössten Despoten und gewalttätigen Diktatoren dieser Welt alle aus kalten und kranken Familienverhältnissen kommen. Der schwarze Kelch wird einfach von Generation zu Generation weitergereicht. Die besten Chancen haben klar diejenigen, die in einem warmherzigen, mitfühlenden, liebenden Umfeld aufwachsen und sich davon prägen lassen dürfen. Die Grösse des Wohlstands spielt kaum eine Rolle.

Und da sitz ich nun, ich armer Tor, und denke, dass ich lenke …

Von Chris von Rohr am 27. Juni 2019 - 15:54 Uhr