«Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen», so lautet eine afrikanische Volksweisheit. Eine nicht zu ignorierende Menge Menschen scheint die Kernbotschaft dieses Sprichworts so zu verstehen, dass die Erziehung des Kindes den Mitmenschen zu überlassen sei.
So beklagen die Bademeister heuer den Umstand, dass Eltern in der Badi häufiger ihr Smartphone im Blickfeld haben als ihr Kind. Dadurch kam es in dieser Saison bereits zu ungewöhnlich vielen Unfällen. Ein Bademeister erzählt, dass ein ziemlich dreister Vater auf die Bitte, er möge doch auf sein Kind achten, gar gemeint habe, dafür sei ja er als Bademeister da.
Noch vor nicht allzu langer Zeit war die Fremdbetreuung von Kindern verpönt. Frauen, die ausser Haus arbeiten gingen, wurden bemitleidet, und ihre Nachkommen ebenso. Man schaute auf sie herab, weil sie geschieden, getrennt oder schlicht nicht in der Lage waren, mit dem Salär des «Familienoberhauptes» (das im Verdacht stand, zu wenig zu leisten) auszukommen.
Heute ist es beinahe umgekehrt. Eine Frau, die keiner externen Erwerbstätigkeit nachgeht, muss sich rechtfertigen und wird als Versagerin oder Mutterkuh betrachtet. Die Fremdbetreuungsscham hat der Hausfrauenscham Platz gemacht. Die heutigen Eltern sind jedoch zu einer Zeit aufgewachsen, als es selbstverständlich war, dass man vor und nach der Schule daheim war. Sie wissen selber weniger darüber, wie es sich anfühlt, die Kindheit da und dort zu verbringen und erst am Feierabend nach Hause zu kommen.
Der Mensch ist ein Pendel und eine Fahne im Wind. Einmal haut er dir eine von rechts, und kurze Zeit später kriegst du einen Klapf von links. Es muss ums Verrecken eine Meinungsmode gelebt werden, und meist krankt diese an einem Mangel an Herz, Verstand und Augenmass.
Fragen Sie doch Ihr Kind, wo es die Zeit nach der Schule am liebsten verbringt. Es wird zweifellos gern ab und zu zum Grosi, einem Gspänli oder auch zur Kita gehen. Vermutlich hat es dort Spielkameraden und -utensilien, die locken, weil man sie daheim nicht hat, oder es gibt etwas Leckeres zu essen, was Mami und Papi nicht kochen. Vielleicht hat man bei den Grosseltern auch ein bisschen mehr Narrenfreiheit … Aber ich verwette meine Gitarre darauf, dass jedes Kind grundsätzlich am liebsten heimgehen möchte.
Vor den Sommerferien meinte ein Nachbarsjunge zu mir, er habe es dann schöner nach den Ferien. Ich war erstaunt über seine Worte, denn ich hatte eigentlich erwartet, dass er es in den
Ferien schöner findet. Auf mein Nachfragen erklärte er: «Weisch, mis Mami traut mir und mim Brueder jetz zue, chli elei deheim z sii. Denn müend mer nümm
so vil i d Tagesstrukture.» Das war ein Statement.
Ich wünschte mir eine andere Prioritätensetzung in Sachen Verwöhnung: Den Forderungen nach permanenter schleckzeug-orientierter Fütterung, elektronischer Berieselung und Rundumbedienung sollte deutlich weniger nachgegeben werden: Dafür dürften die Eltern der Sehnsucht nach dem Daheimsein und gemeinsamen Taten viel mehr entsprechen. Welches Kind träumt nicht davon, mit den Eltern ein Gartenhaus zu bauen oder draussen zu übernachten? Dabei mitanzupacken, macht selbstständig und stark im Kopf und in den Gliedern. Die Bindung wird gestärkt, und die Seele ruht.
Apropos Bindung: In vielen Betreuungseinrichtungen wechselt das Personal fleissiger als die Bewohner. Kinder machen dabei die Erfahrung, dass Beziehungen kaum von Dauer sind und sie irgendwann stehen gelassen werden. Sich mehrmals von jemandem zu verabschieden, den man gern bekommen hat, schafft seelischen Stress.
Wenn Grosseltern sterben, wird die Trauer akzeptiert und darf ausgelebt werden. Sogar beim Haustier gesteht man den Kindern ein Tief und einen seelischen Schmerz zu. Wechseln die Leute, mit denen man täglich einige Stunden in der Schule oder der Kita verbracht hat, wird die Betroffenheit heruntergespielt. Es kommt ja jemand anderes, der bestimmt ebenso nett ist!
Auch wenn die Eltern zügeln wollen, hat die Jungmannschaft die Kröte zu schlucken. Man schwadroniert von einem Reichtum an Flexibilität, Erfahrungen, Weltoffenheit, der gewonnen werde. Alles Geschwurbel! Denn häufiges Umziehen und allgemein fehlende Konstanz und Verlässlichkeit in der Kindheit gehören zu den grössten Risiken für psychische Instabilität im Erwachsenenalter.
«Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen», sagten die Afrikaner, als ihre Welt noch ein Dorf war. Und ein anderer weiser Mann erkannte, dass es stets die Dosis ist, die das Gift macht.