«Dafflon», meldete sich der Theaterunternehmer und merkte, wie seine Stimme zu versagen drohte.
«Hast du es gelesen?», fragte sein Freund Eddy am anderen Ende der Leitung, «Salerno ist in der Aare ertrunken! Ist das nicht furchtbar?»
Dafflon bemühte sich darum, seine Sinne beisammenzuhalten. Er kannte nur einen, der sehr direkt von Salernos Tod profitierte. Dieser eine war Eddy, der Nationalrat und Gesundheitspolitiker, der nun am Telefon wortreich beteuerte, wie sehr er Salernos Ableben bedauerte.
«Was mag ihm zugestossen sein?», fragte Eddy. «Er tut mir trotz allem leid. Er war ein Gangster, kein Zweifel, aber er hat diesen Abgang nicht verdient. War es ein Badeunfall? Oder wurde er gar umgebracht?»
Dafflon wusste nicht, was er antworten sollte. Was faselte Eddy von einem Badeunfall? Der Leichnam war im massgeschneiderten Nadelstreifenanzug aus der Aare gezogen worden. Das stand im Online-Artikel, den auch Eddy gelesen haben musste. Hatte Eddy den Italiener getötet? Das war kaum denkbar. Eddy war nicht der Typ, der einem andern körperlich zusetzen konnte. Ausserdem hätte er ihn doch ins Vertrauen gezogen, wenn er vorgehabt hätte, Salerno umzubringen. Dafflon und Eddy waren Jugendfreunde. Es gab nichts, was sie einander verschwiegen hätten. Dafflon atmete tief durch, bevor er fragte: «Eddy, sei ehrlich, hast du etwas mit Salernos Tod zu tun?»
Eddys Empörung schien echt zu sein: «Wie kannst du so etwas denken? Ich hätte mich mit ihm geeinigt. Salerno und ich sind Geschäftsleute. Unter Geschäftsleuten findet man immer einen Weg. Du weisst das besser als ich. Nein, nein, unser Freund Salerno muss mächtige Feinde gehabt haben, hier oder anderswo.»
«Was tun wir jetzt?», fragte Dafflon.
«Was soll die Frage? Wir tun nichts. Du arbeitest weiter und ich ebenfalls. Uns wird niemand zu Salerno befragen. Und falls doch, kennen wir ihn nicht. Da soll erst jemand das Gegenteil beweisen. Ich habe zurzeit Kommissionssitzungen, die übrigens diesmal im Hotel Bellevue stattfinden, wegen der Abstandsregeln. Wir diskutieren darüber, wie viel der Bund für eine Schutzmaske höchstens bezahlen soll. Ich habe meine Dienste anerboten, um sehr günstige Masken zu beschaffen.»
SI-Forsetzungskrimi
Seit dem Beginn des Lockdown organisiert Louis Dafflon illegale Comedy-Shows in seinem Klein- theater in Bern. Bisher lief alles ausgezeichnet. Dafflon konnte seine Schulden beim Mafia-Gangster Salerno abbezahlen. Dafflons Freund Eddy, der Gesundheitspolitiker und Natio- nalrat, stand ihm mit Rat und Tat zur Seite. Doch nun wurde Salernos Leiche aus der Aare gezogen, und Dafflon kommt ins Schwitzen. Etwas verpasst?
Am Tag nach dem er von Salernos Tod erfahren hatte, bemühte sich Dafflon, seine Nerven im Zaum zu halten. Doch schon beim Morgenrapport mit seiner Assistentin Isa von Greyerz explodierte er ein erstes Mal. Sie hatte ihn daran erinnert, dass der nächste Künstler darauf bestand, im Hotel Schweizerhof zu übernachten. Erst war Dafflon ruhig geblieben, hatte ihr gesagt, der Künstler dürfe übernachten, wo es ihm beliebt. Er habe vertraglich Anrecht auf eine Übernachtungspauschale von 100 Franken.
Bei diesem Künstler sei es anders, er habe im Vertrag diesen Passus abgeändert durch den Satz: «Übernachtung im Hotel seiner Wahl.» Und jetzt sei seine Wahl auf den «Schweizerhof» gefallen.
«Wie kann er sich dazu erfrechen!»
«Du hast den Vertrag unterzeichnet, Louis.»
Dafflon, der kaum je ein Dokument durchlas, das ihm seine Assistentin zum Unterschreiben vorlegte, war ausser sich vor Zorn. Allerdings war es ein Zorn, den er nicht abladen konnte, weil er ihn selbst verursacht hatte. Da war nichts zu machen. «Hoffentlich bringt dieser Drittklasskomödiant wenigstens mein Publikum zum Lachen!»
«Er soll sehr gut sein», sagte die Assistentin.
«Das ist unmöglich, Isa, du weisst es so gut wie ich. In der Kleinkunst sind die Guten immer pflegeleicht. Diejenigen, die auf Übernachtungen in teuren Hotels bestehen und eine ganze Liste von Spezialwünschen haben, das sind die Unfähigen, die Gescheiterten. Anspruchsvoll sind immer die Deppen, die es zu nichts gebracht haben und sich nun ein bisschen Bedeutung geben wollen, in dem sie uns Veranstalter schikanieren.»
Die Morgensitzung mit seiner Assistentin hatte Dafflons Stimmung nicht gehoben. Aber in ein ernsthaftes Stimmungstief fiel er erst, als ihn ein gewisser Leuenberger anrief, der sich als Zivilfahnder der Kantonspolizei vorstellte. Im ersten Augenblick dachte Dafflon, es gehe um seine illegalen Shows. Er hatte sich alle möglichen Rechtfertigungen und Ausreden längst zurechtgelegt. Aber dieser Leuenberger wollte nichts wissen über verbotene Aufführungen im Kleintheater. Stattdessen sagte er, er ermittle in einem Tötungsdelikt und er würde ihn gerne aufsuchen.
Dafflon zählte innerlich auf drei und atmete einmal ganz tief durch, bevor er antwortete:
«Ein Tötungsdelikt? Ich weiss nichts von einem Tötungsdelikt.»
Dieser Leuenberger war entweder besonders freundlich oder besonders gerissen, dachte Dafflon, denn er antwortete in vollkommen harmlosem Tonfall: «Natürlich, Herr Dafflon, es ist mir auch sehr unangenehm, Sie wegen einer derart leidigen Angelegenheit behelligen zu müssen. Es ist nur so, dass wir einen unbekannten Toten aus der Aare gezogen haben. Das Einzige, was er bei sich trug, war ein Smartphone. Heute Morgen ist es unseren Technikern gelungen, die SIM-Karte lesbar zu machen, und dabei ist uns aufgefallen, dass der Verstorbene mit Ihnen per Whatsapp in Kontakt stand.»
Wieder zählte Dafflon innerlich auf drei, wieder atmete er einmal tief durch. Dann versuchte er, seinen Worten einen möglichst beiläufigen Tonfall zu geben.
«Wissen Sie, Herr Baumberger, ich habe mit so vielen Leuten Kontakt, mein Beruf bringt das mit sich. Aber wenn Sie mich besuchen wollen, kann ich Ihnen vielleicht tatsächlich behilflich sein.»
«Leuenberger!», sagte der Polizist, «mein Name ist Leuenberger, nicht Baumberger. Aber das ist ein Detail. Wenn Sie einverstanden sind und mir sagen, wo Sie zu Hause sind, fahre ich sofort los.»
Dafflon hatte sich entschlossen, diesem Leuenberger alles zu erzählen. Lieber bezahlte er die Busse wegen der illegalen Aufführungen, als dass er mit einem Mord in Verbindung gebracht wurde. Auch sein Anwalt, mit dem er kurz gesprochen hatte, bevor der Fahnder bei ihm auftauchte, hatte dazu geraten, nur die Wahrheit zu sagen. «Sie finden alles heraus, Louis. Wenn du dich nicht unnötig verstricken willst, darfst du keine Lügen auftischen.»
Als das Gespräch mit dem Polizeibeamten vorbei war, kam es Dafflon vor, als sei eine schwere Last von ihm gefallen. Fast wie in seiner Kindheit im Freiburgischen, wenn er jeweils mit geläuterter Seele aus dem Beichtstuhl trat.
Droht Dafflon nur eine Busse? Und was alles hat er dem Fahnder Leuenberger erzählt?