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Notabene von Chris von Rohr

«Mein Baum»

Musiker, Produzent und Autor Chris von Rohr schreibt in seiner Kolumne darüber, wie wertvoll Bäume in unserer Zeit sind.

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Bäume in Deutschland für Notabene von Chris von Rohr

Autor Chris von Rohr hat eine grosse Faszination für Bäume.

Getty Images/EyeEm

Mit und unter ihm verbrachte ich unzählige Stunden. Er kennt mein halbes Leben, meine Freuden und meine Sorgen. Es ist ein mehrhundertjähriger Lindenbaum, der ein mittlerweile verlassenes Kapuzinerkloster bewacht. Ein Wunderwerk der Natur.

Ich liebe Bäume. Sie sind die Freunde, die dich nie hängen lassen, und sie durchwurzeln unser Leben viel mehr, als wir glauben. Wir müssen nach einem kargen, kahlen Winter nur mal ins Frühlingsgelände rausschauen. Welch unglaubliche Baumpracht in allen Grünvarianten! Man muss nicht LSD konsumieren, um zu erahnen, dass dies alles Lebewesen sind, die ähnlich wie wir funktionieren.

Holz in allen Formen und Farben erzählt eine Geschichte und riecht fantastisch, vor allem die Arve, aber auch gewisse Tannenbäume. Schon nur eine Decke mit Holz zu verkleiden, gibt dem Raum einen völlig anderen, wärmeren Touch. Und erst die Böden! Es läuft sich doch viel angenehmer auf einem Parkettboden als auf Stein. Eine Holzumgebung hält naturwissenschaftlich nachweisbar unseren Körper physiologisch, organisch gesünder. Ich liebe es, Gehölze in die Hand zu nehmen, und bin ein leidenschaftlicher Schwemmholzsammler. In meinem Jugendstilschlösschen befindet sich mehr Holz als irgendein anderes Material.

Wälder sind die krassesten Gegenentwürfe zu unserer Zeit

Doch woher kommt das Holz eigentlich, wie entsteht es? Mein Biolehrer meinte einst: «Die Bäume ernähren sich von der Erde, aus dem Boden heraus.» Und ich dachte mir: Hm, die fressen Erde und erzeugen Holz daraus? Eine etwas very fade Ernährung. Nun, meine damaligen Lehrer waren vor allem Weltmeister im Austeilen von Ohrfeigen.

Heute weiss ich es besser. Von der grossen Holztischplatte, auf der ich gerade schreibe, meiner Gitarre oder dem drei Meter hohen geschälten Kirschbaumstrunk, der als Naturdeko in meinem Wohnzimmer steht, sind gerade mal ein Prozent aus der Erde, aus dem Boden. Der Rest ist Luft und Wasser und sonst nichts. Eine perfekte Kreislaufwirtschaft und wahrlich ein Wunder. Ganze Wälder entstehen aus Luft, Licht und Wasser plus ein wenig Spurenelementen aus der Erde. Und alles wird wiederverwertet in die nächste Kaskade weitergereicht. Da gibts keine sinnlose, schnelle Wegwerfkultur, nur damit sich die Wirtschaft weiterdreht. Wälder sind die krassesten Gegenentwürfe zu all den Fehlentwicklungen unserer Zeit.

Noch etwas beeindruckt bei den Bäumen: Sie tun alles, um ihren Boden zu sichern, die Luft sauber zu halten, Humus zu bilden, frisches, sauberes Wasser zu produzieren, um schliesslich erfolgreich in die Höhe zu wachsen, ihre Kronen auszubreiten und via Samenflug Nachkommen zu erzeugen. Ein harter Konkurrenzkampf, da es ja auf engem Raum viele Bäume gibt, und dieses Überlebensringen nur mit viel Erfahrung, Kommunikation und Lebensweisheit zu gewinnen ist.

Förster und Holzhausbauer Erwin Thoma geht in seinem empfehlenswerten Buch «Die geheime Sprache der Bäume» auf diese Erkenntnisse ein. Er beschreibt Bäume als Lebewesen mit eigener Seele und belegt, dass das Baumharz der Nadelhölzer, das synthetisch nicht nachbaubar ist, im höheren Masse mehr viren-, bakterien- und pilzabtötend wirkt als jedes Medikament, das uns die Pharmaindustrie zur Verfügung stellt. Bäume waren die Wegbereiter unseres Lebens. Es gibt sie seit 500 Millionen Jahren – Menschen erst seit vier. Trotzdem sind die Bausteine, die Moleküle des Baums nahezu identisch mit denen des Menschen, einfach ein leicht anderes Strickmuster. Unglaublich!

Erinnerungen an die Jugend

Mit 15 Jahren pflanzte ich hinter meinem Elternhaus diese herrliche Douglas-Tanne aus dem Bayerischen Wald. Zu unser aller Erstaunen wuchs dieser wunderbare Baum über die Jahre buchstäblich in den Himmel. Er war das Naturereignis des Quartiers und oft bewundert. Doch das schien den späteren Besitzer des Hauses nicht zu interessieren – er machte ihn einfach bodeneben. Unfassbar! Ein Mörderstich in mein Herz.

Unbemerkt schlich ich mal an die Stelle zurück, wo der Baum einmal stand. Die Luft über dem Strunk war immer noch erfüllt vom Duft und der Gestalt dieses Baumes. Einige Wurzeln, die dalagen wie Schlangen, waren nur leicht überwachsen von Moos, modriger Erde und Grünzeugs. Ja, er war noch da, dieser Baum, genauso wie meine verstorbenen Eltern, Grosseltern und Freunde noch da sind.

Wir alle sind immer noch da. In der Luft, in den verstaubten Wurzeln, unter den Steinen, in der Erde, im Widerhall der Songs und Geschichten, die davon erzählen, wann und wie wir gelebt haben. Das hat doch etwas Tröstliches. Und ja: Lasst uns weiterhin Bäume pflanzen.

Von Chris von Rohr am 3. Juni 2019 - 16:49 Uhr