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  3. Alkoholsucht: Stigma verzögert Hilfesuche um 10 Jahre
Direktorin von Sucht Schweiz:

«Alkoholsucht ist eine Erkrankung, keine Charakterschwäche»

«Erst, als sie unter Alkoholeinfluss einen Unfall baute, holte sie sich Hilfe», so Sucht-Schweiz-Direktorin Tania Séverin über eine Betroffene. Sie will mit Vorurteilen aufräumen – denn nicht zuletzt wegen Stigmatisierung lassen sich viele Abhängige aus Scham nicht helfen.

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Ab wann trinkt man zu viel Alkohol?

Oft startet es mit einem Feierabenddrink – und plötzlich trinkt mehr, als einem guttut.

Getty Images

Dass es ohne Alkohol nicht mehr geht, spüren viele Abhängige schon lange. Doch die Fassade aufrechtzuerhalten – vor sich selbst und vor anderen –, gelingt oft jahrelang. Alkoholkonsum ist in der Gesellschaft etabliert. Man prostet sich an Partys zu, trifft sich zum Feierabendbier, bringt eine Flasche Wein als Gastgeschenk mit – und ein täglicher Schluck Rotwein gilt in vielen Köpfen noch immer als gesund. Es fällt eher auf, wenn jemand nicht trinkt, als wenn das Trinken aus dem Ruder läuft.

«Eine Betroffene erzählte mir kürzlich, dass sie ihren Konsum jahrelang nicht kontrollieren konnte. Erst als sie unter Alkoholeinfluss einen Autounfall hatte, brachte sie den Mut auf, sich Hilfe zu holen», sagt Tania Séverin (49), Direktorin von Sucht Schweiz.

Mut? Ja, den braucht es. Wer sich seiner Alkoholabhängigkeit stellt, muss mit heftigen gesellschaftlichen Reaktionen rechnen, die aus Vorurteilen und Falschannahmen entstehen. «Das Wissen darüber, dass Alkoholsucht eine psychische Erkrankung ist, ist wenig verbreitet. Viele halten es für eine Charakterschwäche.» Entsprechend werden Alkoholabhängige schnell als willensschwach, verantwortungslos oder intellektuell unterlegen abgestempelt.

Wie Vorurteile die Sucht verschlimmern

Die Angst vor Verurteilung wirkt wie ein Verstärker für das Problem. «Alkoholabhängigkeit gehört zu den psychischen Erkrankungen mit langer Verzögerung bis zur Hilfesuche», sagt Séverin. Schätzungen zufolge dauert es im Schnitt zehn Jahre, bis Betroffene professionelle Unterstützung in Anspruch nehmen. Dieser Zeitraum ist deutlich länger als bei weniger schambehafteten Erkrankungen wie etwa einer Depression.

Alkoholabhängigkeit tritt in allen Gesellschaftsschichten auf. Das Stigma trifft manche Menschen jedoch härter als andere. So sind Menschen mit geringem Einkommen stärker gefährdet. Auch mit alkoholabhängigen Frauen geht man härter ins Gericht. Zum einen, weil sie den gesellschaftlichen Erwartungen an die Weiblichkeit widersprechen: Fürsorglichkeit, Selbstkontrolle und soziale Anpassung. Zum anderen, weil Suchtverhalten als besonders unvereinbar mit weiblichen Rollenbildern gilt.

Mütter sind besonders betroffen

Zum Beispiel mit der Mutterrolle. Die gesellschaftliche Erwartung, als Mutter stets verantwortungsvoll und selbstlos zu handeln, steht im Widerspruch zu einem Suchtverhalten. «Viele betroffene Mütter berichten von Schuldgefühlen und der Angst, als unzureichend oder gar gefährlich für ihre Kinder angesehen zu werden», sagt Séverin.

Eine Studie von Sucht Schweiz zeigt, dass Mütter mit Suchterkrankung oft zusätzlich unter internalisierter Stigmatisierung leiden, was ihr Selbstwertgefühl beeinträchtigt und sie an ihren Fähigkeiten als gute Mütter zweifeln lässt. Diese Selbstzweifel können dazu führen, dass viele unnötigerweise jahrelang im Stillen unter der Sucht und ihren Folgen leiden.

Im Verborgenen zu trinken, kostet enorm viel Energie – viele Betroffene sind rund um die Uhr damit beschäftigt, ihr Problem zu verstecken. Sie isolieren sich, vermeiden zunehmend soziale Kontakte und ziehen sich selbst aus dem engsten Umfeld zurück. Gleichzeitig leiden Angehörige oft mit – emotional, durch das Verhalten der süchtigen Person und finanziell.

Was braucht es, damit Hilfe früher greift?

An Hilfsangeboten mangelt es in der Schweiz nicht. «Doch so lange das gesellschaftliche Bild der Abhängigkeit von Schuld und Scham geprägt ist, bleibt die Schwelle hoch, sich die Probleme einzugestehen und diese Angebote zu nutzen», erklärt Tania Séverin. Um den Betroffenen Hilfe zugänglich zu machen, braucht es Wissen. «Alkoholabhängigkeit ist eine Erkrankung mit vielfältigen Ursachen, von biografischen Belastungen über psychische Probleme bis zu sozialen Faktoren. Es braucht mehr Wissen und weniger Vorurteile. Sodass Betroffene keine Angst vor der Scham mehr haben müssen und schnell Hilfe erhalten.»

 

 

Von Sylvie Kempa (Service-Team) am 21. Juni 2025 - 09:00 Uhr