Wie viel Ehrlichkeit ist zu viel, wenn man sich frisch datet? In der achten Staffel der US-amerikanischen Datingshow «Love Is Blind» sorgte Teilnehmerin Madison Errichiello (28) für Diskussionen, weil sie sehr früh in der Kennenlernphase über ihre schwierige Kindheit und suchtkranken Eltern sprach. Sie soll dadurch eine falsche emotionale Verbundenheit zu ihrem potenziellen Partner erzwungen haben.
Dieses Verhalten wird als Floodlighting (auf Deutsch: Flutlicht) bezeichnet. Es ist ein Phänomen, das nicht nur im Reality-TV vorkommt. Der deutsche Psychologe und Dating-Experte Christian Hemschemeier (58) sagt: «Im Gegensatz zu früher, als man persönliche Themen eher für sich behielt, kehren heutzutage immer mehr Menschen ihre Verletzlichkeit nach aussen.» Je nach Zeitpunkt könne das eine Beziehung eher schwächen als stärken.
Errichiello und ihr Date kamen sich schnell näher, trennten sich aber später in der Show.
Beziehung ohne echte Basis
Die Gründe für Floodlighting sind laut Experte vielfältig. Es kann sein, dass eine Person das eigene Trauma noch nicht genügend verarbeitet hat, oder dass negative Beziehungserfahrungen einen geprägt haben. «Manche Menschen testen bewusst, ob das Gegenüber mit schwierigen Themen umgehen kann.» Dann sei die Absicht nicht, einen Partner zu finden, sondern jemanden, der sich um einen kümmere. Hinter Floodlighting könne auch das Bedürfnis stecken, sich gesehen zu fühlen.
Unabhängig von der Ursache warnt der Experte vor dem Dating-Phänomen: «Was zu Beginn wie emotionale Nähe wirkt, ist häufig eine Pseudo-Vertrautheit, die gar keine echte Basis hat.» Wenn sich eine Person schon zu Beginn sehr verletzlich zeige, nehme das Gegenüber die Rolle des Retters ein. Der Wunsch, die labile Person zu «retten», funktioniere aber in den seltensten Fällen. Stattdessen entwickle sich eine unausgeglichene Dynamik.
«Häufig wird aus dem vermeintlichen Retter später das eigentliche Opfer, da sich die Person überfordert fühlt mit der Verantwortung, die sie unbewusst übernommen hat», sagt Hemschemeier. In der Folge wird eine Person stark bindungsängstlich und die andere klammert aus Verlustangst. Es entstehe eine instabile, toxische Verbindung, die von Unsicherheit geprägt sei.
Warnsignale erkennen
Heisst das jetzt, dass man bei der Partnersuche schwierige Erfahrungen und Traumata verschweigen sollte? Nein, sagt der Psychologe, doch sich zu öffnen erfordere Vertrauen. «Dating sollte vor allem Spass machen.» Wenn emotionale Belastungen zu früh thematisiert würden, könne die Leichtigkeit verloren gehen. Es sei ein Warnsignal, wenn jemand schon bei den ersten zwei, drei Dates viele belastende oder sehr intime Themen anspreche. Hemschemeier rät, in solchen Situationen aufmerksam zu bleiben und nicht unbewusst in eine Helferrolle zu rutschen.
«Gerade wenn Dates besonders intensiv wirken, sollte man sich nicht zu schnell von starken Gefühlen oder der körperlichen Anziehung blenden lassen», sagt er. Nur weil man in gewissen Aspekten viel Verbundenheit spüre, bedeute das nicht, dass man alles andere ausblenden sollte. Es sei wichtig, sich zu fragen: Tut mir diese Verbindung gut? Passt sie zu dem, was ich langfristig suche? Wer sich überfordert fühlt, sollte das laut Experte respektvoll kommunizieren, etwa im Stil von: «Für mich ist das gerade zu viel».
Solche Rückmeldungen seien auch für die Person, die Floodlighting betreibe, wertvoll. «Dating ist ein Bereich, in dem man sich persönlich enorm weiterentwickeln kann.» Feedback biete die Chance, das eigene Verhalten zu reflektieren und Beziehungen künftig gesünder und ausgeglichener zu gestalten.