Obwohl Babys mit einer Lippen-Kiefer-Gaumenspalte ganz normal zur Welt kommen können und deswegen auch keine Schmerzen haben, sind werdende Eltern nach der Diagnose oft grossen Ängsten und Sorgen ausgesetzt. Die relativ häufig auftretende Fehlbildung entsteht hauptsächlich aus genetischen Gründen und wird innerhalb des ersten Lebensjahres operiert. Oft ist danach fast nichts mehr von der Fehlbildung zu sehen. Kinder mit einer Lippen-Kiefer-Gaumenspalte werden aber während der ganzen Kindheit medizinisch begleitet – zum Beispiel im Zentrum für Lippen-Kiefer-Gaumenspalten und Gesichtsfehlbildungen am Universitätsspital Basel. Der leitende Facharzt Andreas Müller klärt im Interview mit der Schweizer Illustrierten auf, was betroffene Eltern bereits während der Schwangerschaft wissen sollten.
Warum entsteht eine Lippen-Kiefer-Gaumenspalte?
Prof. Dr. Dr. Andreas Müller: Den Auslöser genau zu definieren, ist schwierig. Es sind mehrere Gene, die zusammenspielen und dazu führen, dass die Entwicklung nicht normal abläuft. Obwohl die Genetik eine zentrale Rolle spielt, ist die Lippen-Kiefer-Gaumenspalte aber nicht direkt vererbbar. Sie entsteht in vielen Fällen, ohne dass das zuvor in der Familie vorkam. Ausserdem gibt es bestimmte Medikamente, die bei der Einnahme während der Schwangerschaft das Risiko einer Lippen-Kiefer-Gaumenspalte erhöhen. Zum Beispiel Kortisonpräparate oder Medikamente bei Epilepsie. Hohes Fieber oder Anstrengungen, die die Körpertemperatur erhöhen, sowie Rauchen in der frühen Schwangerschaft können ebenfalls eine Ursache sein. In den meisten Fällen ist aber nichts davon der Fall und es sind alleine die Gene verantwortlich.
Was können Schwangere präventiv unternehmen?
Wir empfehlen generell, Folsäure und Multivitaminpräparate einzunehmen – am besten schon vor der Schwangerschaft. Wenn in der Familie bereits einmal eine Lippen-Kiefer-Gaumenspalte vorkam, empfehlen wir eine höhere Dosis einzunehmen.
In welcher Schwangerschaftswoche entsteht die Lippen-Kiefer-Gaumenspalte?
Sie entsteht in der sechsten bis zwölften Woche. Während dieser Phase läuft ein komplexer Prozess ab, in dem die Gesichtswülste und Gaumenfortsätze am richtigen Ort innerhalb kurzer Zeit zusammenwachsen müssen. Wenn das nicht klappt, kann dies später in der Schwangerschaft nicht mehr nachgeholt werden und es entsteht eine Spalte. Die weitere Entwicklung des Körpers verläuft in der Regel aber ganz normal.
Wie wird die Lippen-Kiefer-Gaumenspalte entdeckt?
Oft wird sie im Rahmen der empfohlenen Ultraschalluntersuchungen um die 20. Schwangerschaftswoche entdeckt. Wenn der Verdacht da ist, bieten wir eine detaillierte Ultraschalluntersuchung mit Spezialistinnenen der Pränataldiagnostik und uns vom Behandlungsteam an, sodass wir Schwangere früh genau darauf vorbereiten können, was auf sie zukommt.
Wie werden betroffene Schwangere betreut?
Es entstehen oft Ängste, die für werdende Eltern sehr belastend sind. In der gemeinsamen Sprechstunde entscheiden wir, ob noch weitere Untersuchungen notwendig sind und wo das Kind zur Welt kommt, damit alle gut vorbereitet und informiert sind. Die Eltern lernen im Gespräch mit der Stillberatung, wie sie das Kind nach der Geburt ernähren können. Mit Gesprächen wollen wir von Anfang an für die Eltern da sein. Ausserdem verbinden wir Betroffene mit anderen Eltern, die den Prozess bereits durchmachten. Wir zeigen Vorher-Nachher-Fotos, um Ängste abzubauen. Je mehr werdende Eltern verstehen, dass ihr Kind ansonsten meist kerngesund ist, verliert die Sache an Schrecken.
Was sind Risiken einer Lippen-Kiefer-Gaumenspalte?
Das Kind kann normal zur Welt kommen und hat auch keine Schmerzen. Die Spalte ist keine Wunde. Das Baby kann auch normal schlucken. Das einzige, dass es bei einer ganzen Spalte nicht kann, ist Saugen. Das heisst, das Kind kann nicht an der Brust trinken, die Mutter muss Milch abpumpen und das Baby mit einer speziellen Trinkflasche füttern. Das Kind braucht also keine künstliche Ernährung und kann ganz normal mit der Mutter im Wochenbett sein. Würde man die Spalte später nicht operieren, würde sie nicht von alleine zuwachsen und das Kind würde beim Essen und Sprechen gehindert.
Wie verläuft die Behandlung?
Babys mit einer gesamten Lippen-Kiefer-Gaumenspalte erhalten direkt nach Geburt eine Gaumenplatte. Das sieht ähnlich aus wie eine Zahnspange und wird mit etwas Haftcreme am Gaumen angebracht. Die Platte überbrückt den Spalt und hilft so beim Trinken. Ausserdem verschmälert die Platte den Spalt beim Wachstum, so dass die Spalte bis zur Operation nicht mehr ganz so breit ist.
Wie verläuft die Operation?
Um für die Sprachentwicklung normale Voraussetzungen zu schaffen, muss die Verbindung zwischen Mund und Nase verschlossen werden. Die Operation erfolgt in der Regel vor dem Erreichen des ersten Lebensjahres, also bevor das Kind zu sprechen beginnt. Bei der Operation werden die linke und rechte Seite der Spalte zusammengenäht, damit die normale Form und Funktion gegeben wird. Es gibt verschiedene Varianten, vorzugehen. So kann beispielsweise bereits mit sechs Monaten die Lippe zusammengenäht werden und der Gaumen erfolgt in einer späteren Operation, mit etwa zwölf Monaten. Wir empfehlen aber eine einmalige Operation im Alter von etwa zehn Monaten. So können Lippe und Gaumen schonender in einem Schritt operiert werden. Die OP erfolgt unter Vollnarkose und das Kind muss etwa zwei bis vier Nächte im Spital bleiben, darf aber sofort wieder normal trinken und Brei essen.
Ist die Lippen-Kiefer-Gaumenspalte nach der Operation noch sichtbar?
Heute ist der Standard so gut, dass in den meisten Fällen der Laie auf Sprechdistanz nichts sieht. Natürlich entsteht eine feine Narbe über der Lippe, aber wir haben heute Techniken, damit die Narbe sehr fein wird und sehr symmetrische Verhältnisse erzielt werden.
Ist die Sache nach der Operation erledigt?
Nein. Die Spalte hinterlässt ein verändertes Wachstum, weil weniger Gewebe vorhanden ist. Es kann sein, dass mit dem Wachstum noch einmal Operationen zur Korrektur notwendig werden. Ausserdem muss später der Zahnbogen wiederhergestellt werden und eine Zahnspange wird nötig sein. Das findet ab dem Alter von etwa fünf Jahren statt. Kinder mit einer Lippen-Kiefer-Gaumenspalte kommen einmal jährlich zur Kontrolle. Ein interdisziplinäres Team mit Fachpersonen aus Zahnmedizin, Hals-Nasen-Ohren-Medizin und einer Logopädin entscheiden gemeinsam die nächsten Therapieschritte, um eine gute abgestimmte Behandlung von der Geburt bis ins Erwachsenenalter zu ermöglichen.
Wie hoch ist die mentale Belastung für Kind und Eltern?
Das ist sehr variabel. Für viele Kinder ist die Lippen-Kiefer-Gaumenspalte kein Nachteil im Alltag und das Thema tritt für Familie und Kind in den Hintergrund. Sehen wir aber, dass die Belastung in der Familie gross ist, ist psychologische Unterstützung sehr wichtig. Es gibt eine Elternorganisation und der Aufbau einer Patientenorganisation ist angedacht. Das erlaubt Betroffenen, sich mit anderen zu verbinden und auszutauschen, was extrem wertvoll ist.
Wie häufig kommt diese Fehlbildung vor?
Jedes 700. Kind, das in der Schweiz zur Welt kommt, hat eine Form einer Lippen-Kiefer-Gaumenspalte. Es ist eine der häufigsten Fehlbildungen, die eine Operation erfordern.