Als die US-Psychologin Kati Morton auf Social Media übers «Eldest Daughter Syndrome» – also das «Älteste Tochter Syndrom» – berichtet, sticht sie in ein Wespennest. Viele Frauen fühlen sich von ihren Videos angesprochen und erkennen sich in den Ausführungen darüber, welchen Einfluss das Leben als älteste Tochter auf die Persönlichkeit hat, angesprochen. Sie tauschen sich über ihre Erfahrungen aus und erzählen davon, wie sie diese im Erwachsenenleben beeinflussen. Das «Eldest Daughter Syndrome» scheint ihnen dabei zu helfen, ihre eigenen Verhaltensmuster einzuordnen und zu erklären.
Doch was ist mit dem «Eldest Daughter Syndrome», kurz «EDS», genau gemeint? Es beschreibt ein psychologisches und soziales Phänomen, gemäss dem die ältesten Töchter besonderen Belastungen innerhalb der Familie ausgesetzt sind und mehr Verantwortung tragen müssen. Grundlage dafür sollen Erwartungen der Eltern und der Gesellschaft sein, welche aufgrund des weiblichen Geschlechts und der Rolle als Erstgeborene gestellt werden – und diese Erwartungen können Auswirkungen aufs Erwachsenenleben haben.
Frauen mit «EDS» berichten etwa davon, dass sie aufgrund der frühen elterlichen Erwartungshaltung einen ausgeprägten Perfektionismus entwickelt haben und sich selbst oft zu viel Druck machen. Zudem neigen viele dazu, sich für das Wohlergehen ihrer Mitmenschen verantwortlich zu fühlen und Schwierigkeiten zu haben, eigene Grenzen zu setzen. Sie vernachlässigen oft ihre Bedürfnisse, stellen sich selbst hinten an und haben Mühe damit, um Hilfe zu bitten oder diese anzunehmen. In Partnerschaften haben sie ausserdem häufig das Gefühl, sich beweisen zu müssen. Das alles kann zu einem geringen Selbstwertgefühl, grossem Stress und sogar Angstzuständen führen.
Weder Diagnose noch wissenschaftliche Belege
Eine offizielle Diagnose ist das «Eldest Daughter Syndrome» aber nicht. Wissenschaftliche Belege dafür, dass die Geburtsfolge die Persönlichkeit gemäss dem «EDS» beeinflusst, fehlen. Expertinnen und Experten gehen vielmehr davon aus, dass die Position unter den Geschwistern einer von vielen Faktoren ist, der einen Einfluss auf die Persönlichkeit haben kann. Als weitere Faktoren werden etwa der Erziehungsstil und der sozioökonomische Status der Familie genannt.
Es gibt sogar mehrere Studien, die zum Schluss kommen, dass die genannten Symptome oder Persönlichkeitsmerkmale nichts mit der Geburtsreihenfolge an sich zu tun haben, sehr wohl aber mit dem Verhalten der Eltern. Davon betroffen sind aber nicht nur die ältesten Töchter. Auch ältere Söhne müssen oft mehr Verantwortung übernehmen als ihre jüngeren Geschwister. Dennoch hat die Debatte rund um das «Eldest Daughter Syndrome» etwas Gutes: Eltern können dadurch stärker sensibilisiert werden und sich künftig darauf achten, ihren älteren Kindern nicht zu viel aufzubürden.