«Forza Luca!», steht auf der Homepage des Tessiner Fussballvereins Losone Sportiva. Darunter das Bild des zwölfjährigen Luca Chiefari, ein rothaariger Kerl mit Sommersprossen und Schalk
in den Augen, den seine Kollegen der C-Junioren eigentlich nur lachend kennen. Normalerweise kämpft Luca mit all seinen Kräften um den Ball. Doch seit Anfang März kämpft er um sein Leben.
Hirnblutung. Rega-Transport von Lugano ins Universitäts-Kinderspital Zürich. Notoperationen. Künstliches Koma. Vor drei Wochen eine schwere Lungenentzündung, wenig später ein grippaler Infekt. Schon zwei Mal wurde Luca auf Corona getestet – zweimal fiel der Test negativ aus. Doch das Virus macht das Leben der Familie Chiefari auch so schwieriger, als es ohnehin ist: eingeschränktes Besuchsrecht, keine tröstenden Umarmungen, kein Café oder Restaurant, in dem man im fremden Zürich mal kurz durchatmen und was essen könnte. Und vor allem: die permanente Angst, sich irgendwo anzustecken und Luca damit lebensbedrohlich zu gefährden.
Stefanie und Domenico Chiefari verbringen deshalb die meiste Zeit in einem Elternzimmer des Kinderspitals, auf engstem Raum mit den Töchtern Lara, 18, und Sofia, 16, die abwechselnd hier sind. «Wir möchten nichts riskieren, schotten uns ab», sagen die Deutschschweizerin und der Italiener. Ein Doppelbett, ein Klappbett, WC und Duschen auf dem Gang, zu essen gibts meist Brötchen aus dem nahen Denner. «Das macht uns nichts aus. Wir sind so dankbar, dass wir hier sein dürfen», sagt Mutter Stefanie.
Das Spital erlaube in der Ausnahmesituation je einen Angehörigen pro Patienten. Jemand ist deshalb immer bei Luca – die anderen Familienmitglieder harren aus. Das Spitalpersonal trage zwar Mundschutz, setze aber alles daran, Normalität zu vermitteln – «sie machen einen wahnsinnig guten Job».
Luca befinde sich meist in einem Dämmerzustand – das verletzte Kleinhirn lässt ihn oft wegdriften. Immerhin atmet er seit Kurzem wieder selbstständig. In den Momenten, in denen
er reagiert, hebt er den Daumen für ein Ja, bewegt den Zeigefinger für ein Nein. Manchmal weint
er. Stumm. Mit einseitiger Mimik. «Das macht mich traurig», sagt seine Mutter. «Einerseits, weil es vermuten lässt, dass er die eine Körperhälfte weniger gut bewegen kann. Andererseits, weil
er vielleicht realisiert, dass er schon wieder eine Hirnblutung hatte …»
«Hallo, Grossmami und Grosspapi, i han eu uuuh gärn!»
Luca, als er im Sommer 2019 wieder zu sprechen beginnt
Die letzte und erste Hirnblutung hatte Luca vor einem Jahr, am 9. März 2019, einem Samstag.
Daheim in Arcegno TI kommt er vom Spielen mit Freunden zurück. Er wirft sein Trottinett in eine Ecke, sagt, er habe Kopfschmerzen. «Luca war immer ein sehr gesundes Kind, klagte selten über Wehwehchen», sagt die Mutter. Kurz darauf bricht ihr Bub zusammen. Es schüttelt ihn. Er krampft, wird bewusstlos. Stefanie, selbst Pflegefachfrau, weiss sofort: Das hier ist ernst. Sehr ernst. Sie ruft die Ambulanz, kontrolliert dann mit professioneller Ruhe Puls und Atmung.
Eine Odyssee beginnt: Im Spital in Bellinzona diagnostizieren die Ärzte die Hirnblutung. Eine Verlegung ins Kinderspital Zürich wäre das Beste, aber wegen schlechten Wetters kommt ein Flug über den Gotthard nicht infrage. Also gehts für eine Notoperation nach Lugano, ins Neurozentrum für Erwachsene. Die Hirnblutungen können nicht komplett gestoppt werden. Es entsteht ein Hirnödem, der Druck in Lucas Kopf wächst und wächst. Sein Zustand: kritisch.
Gemeinsam entscheiden Familie und Ärzte, den Transport nach Zürich zu wagen. Die Mutter bleibt in der Ambulanz permanent an der Seite ihres Sohnes, der zitternde Vater wird von Verwandten nach Zürich gefahren. Nachbarn und Freunde betreuen Lucas geschockte Schwestern Sofia und Lara, welche den Alltag von nun an selbst bewältigen.
Hilfsorganisationen sind besonders jetzt auf Unterstützung angewiesen.
www.fondazione-elisa.ch
IBAN CH08 0900 0000 6570 3483 7
www.kispi.uzh.ch/spenden
IBAN CH69 0900 0000 8705 1900 2.
Kaum in Zürich, folgen mehrere Eingriffe. Die Blutungen werden gestoppt, und Lucas Schädeldecke wird entfernt, damit das verletzte Hirn Platz hat. Dann erhalten die Eltern eine erste Diagnose: Unbemerkte Fehlbildungen von Gefässen in Lucas Kleinhirn haben die Blutungen ausgelöst. Diese Fehlbildungen zu korrigieren, sei heikel. Luca müsse sich erst erholen.
Nach bangen Wochen auf der Intensivstation und mehreren missglückten Versuchen, Luca
aus dem künstlichen Koma zu holen, erwacht er, beginnt zu atmen, scheint, wenn auch nur wenige Millimeter, alles bewegen zu können. Nun soll Luca in die Reha. Weil das einzige Schweizer Rehabilitationszentrum für Kinder in Affoltern am Albis ZH keinen Platz hat, muss er dafür in die Klinik Bosisio Parini in der Lombardei. «Medizinisch war die Betreuung top», sagt die Mutter. Aber weil in Italien die Angehörigen für Pflege und Versorgung der Patienten verantwortlich sind, kommt die Familie an ihre Grenzen.
Bis Ende August weicht Mutter Stefanie kaum von Lucas Seite. Seine Schwestern Lara und Sofia sieht sie selten, geht nur ins zwei Stunden entfernte Zuhause, um Wäsche zu waschen, Essen für die Klinik vorzukochen. Luca macht Fortschritte. Er beginnt plötzlich zu reden. «Hallo, Grossmami und Grosspapi, i han eu uuuh gärn!» sagt er zum Erstaunen aller völlig problemlos, als seine Grosseltern aus Grabs SG ihn besuchen.
Im August wird Luca entlassen. Nach erneuten Untersuchungen im Kinderspital Zürich ist klar: Die Fehlbildungen in seinem Kleinhirn sind zu komplex, eine Operation wäre zu riskant – erst recht jetzt, wo sich Luca so gut erholt. Seine Schädeldecke, vor fünf Monaten entfernt und medizinisch «eingefroren», soll wieder eingesetzt werden. Doch sie passt nicht mehr. Nach einer Rekonstruktion kehrt bei den Chiefaris endlich wieder so etwas wie Alltag ein.
Luca besucht zweimal die Woche seine alte Klasse, wird von einer Schulhilfe unterstützt. An drei Tagen trainiert er in der Reha-Klinik Hildebrand in Brissago TI. Sein Kurzzeitgedächtnis funktioniert nicht ganz so gut. Er braucht manchmal länger, um Dinge zu verstehen. Aber er geht, rennt und dribbelt wieder – schneller und schneller. «Ich ha so Freud», sagt er oft. «Typisch Luca», sagt seine Familie.
Nach der Physiotherapie am 2. März 2020 bricht Luca unvermittelt zusammen. Wieder bluten die verknoteten Gefässe in seinem Hirn. Spontan, nicht belastungsbedingt. Wieder kann er zuerst nicht nach Zürich geflogen werden wegen schlechten Wetters. Im Spital Lugano herrscht zudem wegen Corona bereits der Ausnahmezustand. «Wir durften nur mit Sonderbewilligung zu ihm», erzählen die Eltern. Tags darauf gehts nach Zürich. Im Kinderspital kann Luca stabilisiert werden. «Jetzt beginnt halt alles von vorne …», sagt die Mutter, sie wirkt erschöpft.
«Für die Hilfe und Solidarität möchten wir uns von Herzen bedanken.»
Stefanie und Domenico Chiefari
Eben erst hat sie in Locarno wieder eine Stelle als Pflegefachfrau angetreten. Bei Vater Domenico – er ist Fotograf und verdient sein Geld mit Hochzeiten – brechen die Aufträge wegen des Lockdown weg. «Zum Glück springt wieder die Fondazione Elisa ein», sagen die Eltern, «sonst müssten wir uns finanziell grosse Sorgen machen.» Bereits nach der ersten Hirnblutung war die Tessiner Stiftung zur Unterstützung schwer kranker Kinder eingesprungen, hatte Stefanie, die selbst jahrelang als Kinder-Spitex-Mitarbeiterin für die Organisation gearbeitet hat, ihren Lohnverlust bezahlt, Reisekosten gedeckt. «Wenn es etwas Gutes an dieser Geschichte gibt», sagen die Chiefaris, «dann ist es die Hilfe und Solidarität, die wir von allen bekommen. Dafür möchten wir uns von Herzen bedanken.»
Noch beraten die Ärzte, ob und wie sie Lucas seltene Gefäss-Fehlbildungen so korrigieren können, dass das Risiko einer weiteren Hirnblutung sinkt. «Dieser Fall ist leider weltweit einzigartig, was es schwierig macht, zu wissen, wie er am besten behandelt werden soll», sagt Niklaus Krayenbühl, Leitender Neurochirurg am Universitäts- und Kinderspital Zürich.
Luca soll nun erst mal in die Reha in Affoltern am Albis. Vor wenigen Tagen hat er es geschafft, mit der linken Hand aus einer mit Knöpfen gefüllten Schüssel einige herauszugreifen. «Vai, vai, vai!» – hopp, hopp, hopp – hat ihn Vater Domenico in bester Fussballmanier angefeuert. Seine Kollegen von Losone Sportiva müssen derweil ihren Einsatz auf später verschieben. Ihr lang ersehntes Turnier in Italien wurde wegen Corona abgesagt. Das dafür gesammelte Reisegeld wird nun in ihren wertvollsten Spieler investiert: in Luca.