Wir Eltern gehören wohl zu den neugierigsten Wesen auf diesem Planeten. Ständig quetschen wir unseren Nachwuchs aus: Wie wars in der Schule? Was habt ihr gemacht? Warum hast du Streit mit dem Nachbarsjungen? Oft wird darauf mit eisernem Schweigen geantwortet – Kinder lassen sich nicht gerne alles aus der Nase ziehen.
Wie also sollen Mütter und Väter mit den kleinen und grossen Geheimnissen ihrer Kids umgehen? Und wie können sie sicherstellen, dass Kinder sich ihnen anvertrauen, wenn sie in Schwierigkeiten stecken oder Probleme haben? Das alles und viel mehr hat uns die Kinder- und Jugendpsychologin Chantal Roulet Huber im Interview verraten:
Frau Roulet Huber, welche Bedeutung und Funktion haben Geheimnisse für Kinder?
Das Ziel der Entwicklung eines Kindes ist die Autonomie. Kinder sollen Dinge auch ohne die Hilfe der Eltern schaffen. So erfahren sie Eigenständigkeit und haben die Möglichkeit, ihr Selbstvertrauen zu stärken. Geheimnisse zu haben, ist da ein wichtiger Meilenstein.
In welchem Alter fängt die Geheimnistuerei an?
Im Kindergarten-Alter bekommen Kinder langsam ein Gefühl dafür, Dinge nur mit Freunden zu teilen oder ganz für sich zu behalten.
Wie verhalten sich Eltern in solchen Momenten am besten?
Es ist wichtig, dass sie den Kindern früh den Unterschied zwischen guten und schlechten Geheimnissen erklären. Gut sind jene, die dem Kind ein gutes Gefühl geben und Freude machen. Diese dürfen sie ruhig für sich behalten. Schlechte Geheimnisse hingegen sorgen für schlechte Gefühle wie Angst, Stress, Wut oder Trauer. Kinder sollen wissen, dass sie in solchen Fällen immer mit einer Vertrauensperson darüber sprechen können.
«Als Eltern muss man aushalten können, wenn mal was schiefläuft. Wir können unseren Kindern nicht alle Steine aus dem Weg räumen.»
Chantal Roulet Huber, Kinder- und Jugendpsychologin
Was, wenn sie das dennoch nicht tun?
Als Eltern muss man damit klarkommen, das Kind nicht zu hundert Prozent schützen zu können. Dies hat nichts damit zu tun, dass wir schlechte Eltern sind, es ist einfach die Realität. Einige Dinge werden uns die Kinder vielleicht erst Jahre später erzählen und damit müssen wir dann umgehen können. Das Gute ist, dass Kinder durch all die Lektionen, die sie im Laufe ihrer Entwicklung lernen, eine gute Resilienz entwickeln. Wir staunen manchmal, dass sie viel mehr ertragen können, als wir denken.
Sollen Eltern etwas unternehmen, wenn sich ihre Teenager verschliessen?
Jugendliche orientieren sich sehr stark an ihrer Clique. Sie wollen dazugehören und sich immer mehr von den Eltern loslösen. Wer möchte, dass Teenager ihnen trotzdem verraten, was sie wirklich beschäftigt, sollte ihnen von klein auf etwas zutrauen und sie eigene Erfahrungen machen lassen. Dies gilt auch für Erfahrungen, die vielleicht nicht gut sind. Als Eltern muss man aushalten können, wenn mal was schiefläuft. Wir können unseren Kindern nicht alle Steine aus dem Weg räumen. Sonst besteht die Gefahr, dass sie später nicht kompetent genug sind, nicht für sich selber denken und Risiken nur schlecht abschätzen können. Und dies kann je nach Situation gefährlich werden.
Wann sollten Eltern besonders hellhörig werden?
Wenn Kinder innerhalb ihrer Peergroup Geheimnisse haben und ihren Alltag gut meistern, ist das aus entwicklungspsychologischer Sicht angemessen und gut. Wenn dies allerdings mit viel älteren Personen der Fall ist, sollte man ganz genau hinsehen. In Situationen, in denen man vermutet, dass das Kind etwas Belastendes mit sich herumträgt, sich aber nicht sicher ist, könnte man dem Kind sagen: «Ich weiss, es wird dir wohler sein, wenn du mit mir sprichst. Du kannst es mir sagen, wann immer du möchtest. Ansonsten gehe ich davon aus, dass du es selber regeln konntest und dass es dir wieder gut geht.» So zeigen Eltern, dass sie für das Kind da sind, ihm aber auch seinen Raum lassen.
Was können Erziehungspersonen denn gegen ihre riesige Neugier tun?
Es ist ganz einfach: Eltern müssen lernen, nicht mehr so neugierig zu sein. Sie müssen sich immer mehr zurücknehmen, sonst riskieren sie, dass ihre Kinder sich zurückziehen. Wenn die Kids trotzdem wenig erzählen, dann hat man immer noch die Möglichkeit, sich mit den Eltern von Freunden des Kindes auszutauschen oder mit den Lehrern zu sprechen. Von Jugendlichen bekomme ich oft das Feedback, dass Eltern nur über die Schule und Noten sprechen wollen, alles andere interessiere sie kaum. Deshalb ist es wichtig, dass Eltern und Kinder regelmässig im Dialog bleiben und zwar über alle möglichen Lebens- und Alltagsthemen.