Was für negative Konsequenzen haben die hohen Erwartungen, die unsere Leistungsgesellschaft mit sich bringt, bei unseren Schulkindern?
Leistungsorientierung und hohe Erwartungen von Schule und Elternhaus sind für eine erfolgreiche schulische Laufbahn der Kinder wichtig. Sie werden erst dann zum Problem, wenn sie zu hoch sind. Wenn die Kinder immer arbeiten, immer noch besser werden sollen, sich über Noten definieren, und doch immer Zweifel haben und denken, sie seien zu wenig intelligent – und deshalb noch mehr arbeiten. Manche reagieren dann mit psychischen Störungen oder körperlichen Symptomen, sie essen nicht mehr, können nicht mehr schlafen, ziehen sich zurück, selbst das Hobby wird zum Stress. Da muss man hinschauen.
Eine neue Statistik des Bundes zeigt den beispiellosen Anstieg von Hospitalisierungen junger Frauen aufgrund von psychischen Problemen. Sehen sie einen Zusammenhang mit dem Leistungsdruck?
Die jüngst veröffentlichten Daten des BfS belegen, dass deutlich mehr Mädchen und junge Frauen von Depressionen und Hospitalisierungen betroffen sind als Knaben und junge Männer. Zwar wissen wir nicht, warum dem so ist. Betreffend unserer Studie würde ich die These wagen, dass Mädchen sich aufgrund ihrer oft sehr hohen Leistungsansprüche an sich selbst und ihrem Hang zu perfektionistischem Verhalten überfordern – bis ihre Psyche rebelliert.
Lehrpersonen mit ihrer Erfahrung und Vergleichsmöglichkeiten wissen wohl einzuschätzen, welches Kind wie viel zu leisten vermag. Aber wie können Eltern, die vielleicht zum ersten Mal ein Schulkind begleiten, die Situation einschätzen?
Auch Lehrpersonen sind nicht davor gefeit, ein Kind zu überschätzen, gerade wenn es aus einem gut situierten Elternhaus kommt und klar ist, dass es entsprechend unterstützt wird. Auch bei der Berufsberatung heisst es bei guten Noten manchmal zu schnell: ‹Das ist ein Fall fürs Gymnasium.› Kindern aus einfacher gestellten Familien rät man eher von einem akademischen Weg ab. Doch die Leistung ist nur eine Seite der Medaille. Wir sollten viel mehr auf die Interessen, Bedürfnisse und Begabungen der Kinder schauen. Ich kenne ein Akademikerpaar, dessen Tochter Bäuerin werden will. Die Eltern lassen das zu, das ist toll. Es ist eine Herausforderung für Eltern, nicht nur das Gymnasium im Blick zu haben, auch wenn sie denken, dieses biete ihrem Kind die besten Chancen auf eine super Karriere.
Warum finden Sie das so wichtig?
Das Gymi ist nicht das Gelbe vom Ei, man muss dann auch wissen, was man studieren will. Zudem gibt es auch viele Studienabbrecher, manche arbeiten nach dem Studienabschluss unter ihrem Bildungsniveau, wieder andere machen nach der Matur überhaupt kein Studium, sondern eine Lehre. Es ist also immer auch die Überlegung wert, ob eine Lehre nicht besser zum Kind passen würde. Darauf kann es später immer noch aufbauen.
Doch wie kann man Eltern, die ja für ihre Kinder nur das Beste wollen, zu mehr Gelassenheit verhelfen?
Wichtig ist, dass unsere Kinder authentisch sein dürfen, gesund aufwachsen und dass Eltern genau hinschauen, was sie können, um den geeigneten Ausbildungsweg zu finden. Eltern sollten versuchen, sich nicht immer mit anderen zu vergleichen, sondern ein Selbstbewusstsein entwickeln und ihre Kinder so erziehen, wie sie es für richtig halten. Dafür muss man sich realistisch und feinfühlig auf die Möglichkeiten des eigenen Kindes einstellen.
Was wünschen Sie sich von der Politik?
Dass die Politik aufnimmt, dass für unsere Hochleistungsgesellschaft eine enorme Unterstützung der Eltern nötig ist, und die Kinder dauernd am Leisten sind, ihr Potenzial immer mehr ausgepresst wird. Es gibt bereits so viele ausgebrannte Kinder, dass schon von ‹Burnout-Kids› gesprochen wird, und psychotherapeutische Institutionen sind übervoll. Doch die Bildungspolitik stellt das nie in einen grösseren Rahmen, sondern schiebt die Schuld den ehrgeizigen Eltern zu, die zu viel wollen. Es ist aber ein Symptom unserer Hochleistungs- und Optimierungsgesellschaft, und darüber müssten wir diskutieren.
Was braucht es denn für ein humaneres Bildungssystem?
Die unbedingten Anforderungen unserer Leistungsgesellschaft sollten auf einem Niveau eingependelt werden, das es ermöglicht, das Wohlbefinden der Kinder und Familien wieder mehr in den Mittelpunkt zu stellen. Auch viele Lehrpersonen fühlen sich sehr unter Leistungsdruck, weil sie den Kindern so viel beibringen müssen. Zudem sollten wir den eindeutigen Trend zur Akademisierung diskutieren.
Inwiefern?
Man müsste über die Bücher gehen, für welche Berufe tatsächlich ein akademischer Weg nötig ist. Auch auf einer Lehre im Strassenbau kann man aufbauen und über die Höhere Berufsbildung Karriere machen. Das Gymi ist ein guter Weg, aber nicht alle sind intellektuell begabt, manche haben eher ein goldenes Händchen. Umgekehrt muss natürlich auch eine Schreinerin heute Englisch beherrschen.
Wie stehen Sie in Kontakt mit Bildungspolitikern?
Seit der Veröffentlichung des Buches werde ich erfreulich oft kontaktiert von bildungspolitischen Kommissionen. Ich war im deutschen Bundestag bei der SPD und den Grünen sowie bei verschiedenen regionalen bildungspolitischen Gremien. Eine Kritikerin der Akademisierung bin ich schon seit längerer Zeit, jetzt wird die Thematik langsam aufgenommen. In der Schweiz ist es ein Weg der kleinen Schritte, den man begeht. In Deutschland läuft es ähnlich. Bezüglich Pisastudie beeindruckt mich bei den Deutschen, wie sie sich empören können und dann etwas unternehmen. In der Schweiz nimmt man es interessiert zur Kenntnis, aber man empört sich nicht. Eine Bemerkung relativiert alles schnell: ‹Wir haben doch ein gutes Bildungssystem.› Es liegt nicht nur am Willen, sondern auch an der Herkunft, die bestimmt, was aus einem Kind wird, und der Förderung, dass sich etwas tut.
In Teil 1 dieses Interviews sprechen wir mit Margrit Stamm darüber, wie es überhaupt so weit kommen konnte, dass sich Schulkinder und ihre Eltern in der Schweiz dermassen unter Druck fühlen – und was die 20 Jahre alte Pisastudie damit zu tun hat.
In Teil 2 sprechen wir mit Margrit Stamm über weitere Gründe, warum Schulkinder heute so sehr unter Druck sind, und warum immer mehr von ihnen – heute sind es bereits sechs von zehn! – eine Therapie verordnet bekommen.