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Interview zum Schulanfang

Chantal Galladé, woran krankt das Bildungswesen?

Bildung ist ihr Beruf und ihre Berufung: Schulpräsidentin und alt Nationalrätin Chantal Galladé über Mobbing, 
Hausaufgaben – und warum man Kinder immer in ihren 
Stärken fördern soll.

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Chantal Juliane Galladé, Schulpraesidentin, ehemaliger Nationalraetin, 8. Juni 2021, Winterthur

Alt Nationalrätin und Schulpräsidentin Chantal Galladé, 48, in einem Schulzimmer in der Altstadt von Winterthur.

Fabienne Bühler

Chantal Galladé, ein neues Schuljahr beginnt, ein altes ist vorbei. Mit welchem Gefühl schauen Sie zurück? Und mit welchem nach vorn?
Ich schaue mit einem sehr guten Gefühl nach vorne, aber auch der Blick zurück ist positiv. Natürlich wird uns allen vergangenes Jahr wegen der Corona-Pandemie in Erinnerung bleiben, doch haben wir gelernt, in dieser Krise unsere Flexibilität zu erhöhen und uns an neue Situationen anzupassen – schulisch wie auch privat.

Für gut 83 000 Schülerinnen und Schüler beginnt die erste Klasse. Wie können Eltern das Kind bei diesem Schritt unterstützen?
Kinder sind von Natur aus neugierig, wollen lernen und freuen sich in der Regel auf den ersten Schultag. Darum sollte man das Kind seine eigenen Erfahrungen machen lassen, auch wenn man persönlich nicht nur positive Erinnerungen an seine Schulzeit hat. Für Kinder ist der erste Schultag ein grosser Schritt. Als Eltern sollte man Verständnis zeigen, wenn es von den Eindrücken Erholungspausen braucht.

Sollen Eltern ihren Kindern bei den Hausaufgaben helfen?
Wenn das Kind danach fragt, darf man Unterstützung bieten. Sollte es stark unter den Hausaufgaben leiden, dann müsste man sich als Eltern an die Lehrperson wenden.

«Studien belegen, dass Kinder, die in ­ihren Stärken gefördert werden, sich auch in ihren Schwächen verbessern.»

Chantal Galladé

Wie kann man denn Kinder beim Lernen unterstützen?
Indem man den Fokus auf ihre Stärken legt und nicht auf ihre Schwächen. Studien belegen, dass Kinder, die in ihren Stärken gefördert werden, sich auch in ihren Schwächen verbessern. Ausserdem sollte man nie Druck auf das Kind ausüben, denn das erzeugt Gegendruck und bringt nicht zwingend bessere Leistungen. Oft gelingt es auch, beim Kind das Interesse an Themen zu wecken.

Und wie kann man das konkret?
Verschiedene Lernangebote bereitstellen und die Arbeit in Interessengruppen ermöglichen – das ist jedoch in erster Linie die Aufgabe der Schule. Als Eltern kann man beispielsweise Themen der Schule aufgreifen. Nehmen Sie das Beispiel Pilze oder Beeren. Mit der Familie kann man bestens Pilze oder Beeren suchen und diese dann in der Küche verwenden.

Woran krankt das Bildungswesen aus Ihrer Sicht heute am meisten?
Es findet eine Bürokratisierung statt, die den Lehrpersonen zu wenig Freiheiten und Kreativität erlaubt und mitunter ihre pädagogischen Möglichkeiten einschränkt. Die Schulen werden je länger, je mehr durch die Verwaltung gesteuert. Pädagogik und Verwaltung beissen sich in meinen Augen. Pädagogik sucht Vielfalt, die Verwaltung fixiert Abläufe und Konzepte für die Administration und engt die pädagogische Vielfalt ein.

«Wenn das Klassenklima stimmt und Kinder und Lehrperson in einer guten Beziehung zueinander stehen, dann funktioniert es meistens in der Schule.»

Chantal Galladé

Aber mischen sich denn nicht auch die Eltern mehr ein als früher?
Wie immer gibt es zwei Seiten: Eltern, die sich gar nicht für die Schule interessieren, und Eltern, die sehr präsent sind. Es gibt Eltern, die teilnehmen, und Eltern, die dreinreden, das ist ein grosser Unterschied. Letztere sind manchmal aufwendig, genauso wie wenn Eltern keinen Kontakt zur Schule ermöglichen wollen. In den meisten Fällen befinden sich Eltern und Schule jedoch in einem Dialog auf Augenhöhe, und man findet bei Problemen oftmals gute Lösungen.

Sie sind Kreisschulpräsidentin, aber auch Mutter zweier Töchter. Wie nehmen Sie als Mutter die Schule und den Kindergarten wahr?
Dank meinen Kindern habe ich verschiedene Schulsysteme kennengelernt. Über alle Schulmodelle hinweg jedoch ist die wichtigste Erkenntnis diejenige, ob die Lehrperson eine Beziehung zum Kind herstellen kann. Wenn das Klassenklima stimmt und Kinder und Lehrperson in einer guten Beziehung zueinander stehen, dann funktioniert es meistens in der Schule.

Wie sollen Eltern mit Tiktok und Co. umgehen?
Da wir selbst keine Digital Natives wie unsere Kinder sind, sollten wir zuerst überhaupt wissen, worum es geht. Neue Technologien sind immer mit Chancen und Gefahren verbunden. Wir sollten uns also zuerst einmal schlaumachen, allenfalls sogar Vorurteile abbauen und danach die Regeln immer mit dem Kind zusammen aushandeln. Konkret habe ich bereits früh das Bewusstsein gestärkt, welche Nachrichten wie verfasst werden sollten, was es mit einem macht, wenn in Chats über jemand gelästert wird, und wie man sich vor unerwünschten Nachrichten schützen kann.

«Ich finde den Lehrerberuf einen wahnsinnig schönen Beruf»

Chantal Galladé

Stichwort Mobbing: Wie erkennt man Anzeichen davon, und was kann man als Eltern dagegen tun?
Mobbing spielt sich leider heute oft im Netz ab und hat sich somit um eine Dimension erweitert: Nicht nur in der Schule, sondern auch zu Hause findet es statt. Als Eltern sollte man darum auf Veränderungen beim Kind achten: Will es plötzlich nicht mehr in die Schule? Hat es körperliche Beschwerden, oder kommt es mit kaputten Sachen nach Hause? Sollten sich die Anzeichen von Mobbing erhärten, dann muss man sich an die Schule wenden, denn Mobbing löst sich nie von selbst auf. Das ist leider ein Irrglaube. Nur ein professionelles Setting von Erwachsenen kann das Mobbing auflösen.

Laut der aktuellen Pisa-Studie lesen die Schweizer Schülerinnen und Schüler schlechter als noch vor vier Jahren. Woran liegt das?
Lesen lernt man über Lesen. Heutzutage hat man viel mehr Optionen, um sich etwas beizubringen, beispielsweise indem man sich auf Youtube ein Tutorial ansieht. Doch um die Lesekompetenz zu erhöhen, muss man lesen. Am einfachsten ist das, wenn man als Eltern versucht, ein Vorbild zu sein, und so das Kind zum Lesen motiviert. Doch nicht alle haben zu Hause die gleichen Voraussetzungen dazu. Darum sollte sicher auch die Schule ihren Fokus auf eine Verbesserung der Lesekompetenz legen.

Die Corona-Krise kommt hoffentlich bald zu einem Ende. Haben wir wegen der Pandemie eine verlorene Schülergeneration?
Eine Generation ist nie verloren, und ein Jahr macht noch lange keine Generation aus. In vielen Ländern waren die Schulen länger geschlossen als in der Schweiz. Und die Kinder haben ja nicht nichts gelernt. Im Gegenteil, sie haben etwas gelernt, was die Generation vor ihnen nicht kannte: Wie geht man mit Krisen um, wie mit Einschränkungen?

Sie machen derzeit eine Ausbildung zur ABU-Lehrperson an Berufsschulen. Was hat Sie dazu bewogen?
Meine Amtszeit als Schulpräsidentin geht bald zu Ende. Ich finde den Lehrerberuf einen wahnsinnig schönen Beruf. Es ist ein Privileg, mit jungen Menschen zusammenzuarbeiten und ihnen etwas für die Zukunft mitgeben zu dürfen. Meine Vorstellung von Pädagogik ist, Kinder und Jugendliche nicht in einen Rahmen zu pressen, sondern sie in ihren Stärken zu stärken, sodass sie sich zu selbstbewussten Persönlichkeiten entfalten können. Das möchte ich auch als zukünftige Lehrerin vermitteln.

Von Andrea Vogel am 7. August 2021 - 08:04 Uhr