Der Übergang von der Mutter zur Grossmutter verläuft für Emma Giovanoli, 70, praktisch nahtlos. Während die jüngste Tochter noch zu Hause lebt, kommt die älteste bereits mit dem ersten Enkelkind angetrabt. Emma Giovanoli ist damals 50 Jahre alt. «Die Familie stand für mich immer an erster Stelle. Ich freute mich auf meine Enkel und hütete sie gern», sagt die Hausfrau und ehemalige Lehrerin.
Fast 20 Jahre lang pendelt die gebürtige Bündnerin zweimal die Woche für je einen Hüetitag mit dem Zug nach Zürich. Die ersten paar Jahre vom Aargau aus, später, als sie mit ihrem Mann wieder in ihren Heimatkanton zurückzieht, fährt sie von den Prättiger Bergen, GR, ins Unterland.
Eine erwachsene Enkeltochter und vier Enkel hilft sie grosszuziehen. Gleichzeitig kümmert sie sich etwa zehn Jahre lang um ihre Mutter, Schwiegermutter und eine ihr nahestehende Tante. Alle drei Frauen begleitet Giovanoli bis zum Tod.
Die Coronakrise setzt ihrem fast zwanzigjährigen Dauereinsatz als Grossmutter ein jähes Ende. Plötzlich hat sie viel Zeit für sich, ihren Mann und das Haus – dabei entdeckt sie ganz neue Seiten an sich.
Die stärkste Erkenntnis trifft Emma Giovanoli fast wie ein Blitz: «Es geht auch ohne mich!» Ihre Gefühle sind durchaus ambivalent. Altes loslassen und Neues begrüssen: Eine gewisse Wehmut mischt sich mit neugieriger Freude.
Auf der einen Seite gefiel ihr bis anhin der Umstand, gebraucht zu werden, auf der anderen Seite hat sie in ihrem gesamten Erwachsenenleben nie richtig Zeit für sich selbst gehabt. Zeit, mit der sie im ersten Moment gar nicht so genau weiss, was damit anzufangen.
Dieser Zustand dauert allerdings nicht lange an. «Was will ich? Was macht mir Freude?», fragt sie sich und findet viele Antworten. Ihre grösste Sorge, nämlich sich selbst eine Tagesstruktur zu geben, die nicht von anderen vorgegeben wird, löst sich rasch auf.
Nonna Emma, 70: «Das Leben ohne regelmässige Verpflichtungen gefällt mir immer mehr.»
«Ich habe mir ein Morgenritual eingerichtet und starte den Tag mit einem Lied, in das ich meine Familie und Freunde miteinbeziehe. Danach mache ich ein paar Atemübungen», erzählt sie. So fühle sie sich trotz der räumlichen Trennung aufgrund der Coronakrise mit ihren Liebsten verbunden.
Überhaupt spielt Musik eine wichtige Rolle in ihrem Leben. Vor zwei Jahren hat ihr Mann, von den Enkelkindern Eni genannt, ihr das Kontrabassspielen beigebracht. Während der ehemalige Oberstufenlehrer auf dem Schwyzerörgeli eine Melodie spielt, begleitet seine Frau ihn auf dem Kontrabass dazu.
Zum Üben haben die beiden 70-Jährigen nun viel Zeit. Nach dem Frühstück wird daher gefiddelt, was das grosse Instrument hergibt. Auf langen Spaziergängen tauscht das Ehepaar, das seit bald 46 Jahren verheiratet ist, sich über Gott und die Welt aus und geniesst dabei die wieder entdeckte Zweisamkeit.
Vermisst Nonna Emma ihren Hüetidienst? «Ich vermisse meine Enkelkinder schon und freue mich, wenn ich sie wieder sehen und umarmen kann. Das Leben, ohne regelmässige Verpflichtungen, gefällt mir aber immer mehr.»