Es ist eine Situation, die wohl alle Eltern schon mehrfach erlebt haben: Man lässt das Kind einmal kurz aus den Augen und schon hat es Mitten im Restaurant den ganzen Inhalt einer Tasche auf den Boden gekippt, weil es sein Lieblingsspielzeug finden möchte. Typisch Kleinkind, mag man da denken. Es richtet innert Kürze das grösstmögliche Chaos an – aber es kann sein Problem auf seine eigene Weise lösen.
Dieses Verhalten, das Erwachsene oft Nerven kostet und als chaotisch wahrgenommen wird, diente dem Entwicklungspsychologen Jean Piaget an Inspiration für seine Theorie, dass Kinder ihr Wissen durch Erfahrungen aufbauen müssen und ihnen zu Beginn die Fähigkeit fehlt, strukturiert zu denken. Er kam zum Schluss, dass Kinder bis zirka sieben Jahre ihre Probleme hauptsächlich nach der «Trail and Error»-Methode lösen – also durch Versuch und Irrtum.
60-jährige Theorie widerlegt
Diese Theorie hält sich seit rund 60 Jahren. Doch nun stellen sie Forschende der University of California Berkeley in Frage. Auf der Wissenschaftsplattform «The Conversation» schreibt die Psychologin Celeste Kidd, die an der neuen Studie beteiligt war: «Piaget hatte zwar durchaus Recht mit seiner Beobachtung, dass Kinder eine Vielzahl ungewöhnlicher Verhaltensweisen an den Tag legen, doch hat mein Labor kürzlich Beweise gefunden, die einige langjährige Annahmen über die Grenzen der logischen Fähigkeiten von Kindern, die auf seiner Arbeit basieren, widerlegen.»
Während Piaget die Kinder Stöcke der Länge nach ordnen liess und dabei unter anderem zur Erkenntnis kam, dass ein 4-jähriges Kind diese meist wahllos hin und her schiebt und in der Regel nicht die gewünschte Reihenfolge erzielt, stellten Kidd und ihre Mitarbeitenden den Kindern eine schwierigere Aufgabe. Sie liessen 123 Kinder zwischen vier und zehn Jahren ein Computerspiel spielen. Anhand verschiedener Hinweise mussten sie die Höhenreihenfolge von hinter einer Wand versteckten tierischen Wesen erraten und diese von klein bis gross ordnen, indem sie deren Turnschuhe – die hinter der Wand hervorschauten – anklicken.
Logische Strategien, wenn nötig
Das Ergebnis überraschte selbst die Forschenden: Mehr als die Hälfte der Kinder entwickelte systematische Lösungsstrategien – und zwar bereits Vierjährige. Kidd schreibt dazu: «Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass Kinder tatsächlich viel früher in der Lage sind, spontan logische Strategien zu entwickeln, wenn die Umstände dies erfordern.» In ihrer Aufgabe war es für die Kinder nicht möglich, die «Trial and Error»-Strategie anzuwenden, da sie die zu ordnenden Wesen nicht sahen.
MINT-Bildung fördern
Die Forschenden rund um Celeste Kidd sehen ihre Erkenntnisse nun als Anlass, die MINT-Bildung (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) zu überdenken. Sie sind der Meinung, dass Pädagoginnen und Pädagogen nun überlegen sollten, wann und wie sie Kindern die Möglichkeit geben, sich mit abstrakteren Problemen und Konzepten auseinanderzusetzen. Da man nun wisse, dass Kinder schon im Vorschulalter fähig sind, Probleme strukturiert zu lösen, könne man diese Fähigkeit früher fördern.
Zudem rät Kidd Eltern zu Geduld, wenn ihre Kinder wieder mal ein Chaos anrichten: Man solle sich dann denken, dass sie offensichtlich auf dem besten Weg sind, bald ein logischeres Verhalten an den Tag zu legen.
