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  4. LCH-Zentralpräsidentin Dagmar Rösler im Interview über Schulstart, Lehrermangel, Integrationsklassen und Eltern

Oberste Lehrerin zu Herausforderungen im neuen Schuljahr

Dagmar Rösler, lassen Sie uns über den Lehrermangel sprechen

Lehrermangel, Integrationsklassen, hohe Erwartungen der Eltern. Das neue Schuljahr wird eine Herausforderung. Die oberste Lehrerin der Schweiz, Dagmar Rösler, erklärt im Interview, warum sie sich trotzdem darauf freut. Und wie Eltern ihren Kindern einen guten Start ermöglichen.

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 Dagmar Rösler Schulextra

Dagmar Rösler, 51, ist Mutter zweier Töchter und Zentralpräsidentin des Dachverbands Lehrerinnen und Lehrer Schweiz.

Kurt Reichenbach

Dagmar Rösler, erinnern Sie sich an Ihren ersten Schultag?
Ich weiss noch genau, dass ich eine Riesenfreude hatte an meinem Schulranzen. Und wie die neuen Hefte und mein Etui gerochen haben.

Nicht alle Kinder erleben den Schulanfang mit Freude. Wie können Eltern ängstliche Kinder begleiten?
Ich glaube, das Allerwichtigste ist, dass man den Kindern bereits im Vorfeld ein positives Gefühl vermittelt. Ein Satz wie: Oje, bald geht die Schule los, bedeutet fürs Kind, dass die Schule nichts Gutes sein kann. Wenn es so etwas gehört hat, geht es am ersten Tag vielleicht skeptischer hin. Besser ist es, wenn Eltern einen positiven Rückhalt geben: Man darf den Kindern aufzeigen, dass es ein Privileg ist, zur Schule gehen und lernen zu dürfen.

Der Trend zu alternativen Schulen und Homeschooling zeigt, dass manche Eltern die Volksschule als nicht zeitgemäss empfinden. Beschäftigt Sie das?
Mich beschäftigt vor allem, welch teilweise rückständiges Bild man oft von der heutigen Volksschule zeichnet. Lehrpersonen sind stets bemüht, den Unterricht weiterzuentwickeln. Der Lehrplan 21 gibt hier Freiraum, indem er nicht nur Lernkompetenzen festlegt, sondern auch überfachliche Kompetenzen zu fördern versucht. Auch müssen nicht mehr alle Kinder einer Klasse leistungsmässig am selben Ort stehen. Es gibt die Abstufung zwischen Grundkompetenzen und erweiterten Anforderungen für Schülerinnen und Schüler, die schneller vorankommen. Viele Lehrpersonen sind bei der Umsetzung sehr progressiv unterwegs.

«Eine Note, die während eines Tests entstand, kann keinen Überblick über die effektiven Fähigkeiten und den Lernfortschritt eines Kindes geben.»

Dagmar Rösler, LCH-Präsidentin

Im Gegensatz zur Politik. Der Kanton Zürich hat gerade die Notengebung, deren Nutzen umstritten ist, gesetzlich verankert. Wie finden Sie das?
Ich verstehe den Wunsch, Leistung auf einfache Art und Weise sichtbar zu machen. Nur kann eine Note, die während eines Tests entstand, keinen Überblick über die effektiven Fähigkeiten und den Lernfortschritt eines Kindes geben, da haben die Kritiker schon recht. Für Kinder, die es sowieso schon schwer haben in der Schule, können Noten ausserdem demotivierend sein. Diese Zahl ist nur ein Richtwert und eine Momentaufnahme, das sollten Eltern und Kinder verstehen. In der Wirtschaft, habe ich den Eindruck, hat man das teilweise bereits begriffen. Viele Lehrbetriebe finden es wichtiger, ob sich ein Kind an Regeln halten kann, pünktlich und verlässlich ist, als welche Noten in seinem Zeugnis stehen.

Auch der Lehrermangel ist in aller Munde. Ist Entspannung in Sicht?
Die Lage bleibt angespannt. Dennoch wird es nicht so weit kommen, dass irgendwo die Schule ausfällt. Die Behörden und Schulen werden alles daransetzen, jede Stelle zu besetzen. Leider wird aber nicht jede dieser Stellen durch eine ausgebildete Lehrperson besetzt werden können

Was halten Sie vom Vorschlag, dass angehende Lehrpersonen die Ausbildung unterbrechen, um zu unterrichten?
Das ist ein Notfallplan, um aus dieser schwierigen Situation herauszukommen. Es ist sicher nicht die schlechteste Idee, Leute einzuspannen, die sich schon mit Pädagogik befassen. Langfristig braucht es andere Massnahmen.

«Der Lohn kommt in der Berufswahl für viele angehende Lehrpersonen nicht an erster Stelle.»

Dagmar Rösler, LCH-Präsidentin

Was würde den Job attraktiver machen?
Das ist komplex. Man könnte Menschen, die den Quereinstieg anstreben, finanzielle Unterstützung zuteil werden lassen. Die Erfahrung zeigt, dass Quereinsteigende an Schulen sehr geschätzt werden, weil sie eine andere Perspektive mitbringen. Aber die Anforderungen an diesen Beruf bleiben sehr hoch, und dem muss man auf jeden Fall im Studium Rechnung tragen.

Wie steht es um die Löhne?
Der Lohn kommt in der Berufswahl für viele angehende Lehrpersonen nicht an erster Stelle. Aber auf Kindergarten und Primarschulstufe gibt es Nachholbedarf, wenn man mit anderen Berufen vergleicht, in denen Menschen ähnlich viel Verantwortung tragen. Ebenso steht in manchen Kantonen die Lohnentwicklung still. Man bildet sich als Lehrperson zwar stetig weiter, der Lohn bleibt aber gleich. Das ist nicht in Ordnung. Allgemein steigen die Ansprüche an den Beruf stetig an.

«Die Schule hat in den vergangenen Jahrzehnten zusätzlich unzählige gesellschaftliche Aufgaben übernommen.»

Dagmar Rösler, LCH-Präsidentin

Was muss eine Lehrperson heute können, was sie früher nicht musste?
Als ich 1993 anfing, musste man sich noch überhaupt nicht mit digitalen Themen befassen. Mittlerweile gehören digitale Medien und Informatikgrundkenntnisse ganz selbstverständlich dazu. Ausserdem hat die Schule in den vergangenen Jahrzehnten zusätzlich unzählige gesellschaftliche Aufgaben übernommen. Etwa den Verkehrsunterricht zu Fuss und mit dem Velo, Zähne putzen, gesunde Ernährung, Umgang mit Medien. Auch die Elternarbeit ist anspruchsvoller geworden.

Und die Eltern selbst?
Eltern sind gegenüber der Schule und den Lehrpersonen kritischer geworden. Wenn dies konstruktiv und auf Augenhöhe passiert, ist das auch richtig. Es geht darum, eine fürs Kind förderliche Zusammenarbeit zwischen Schule und Eltern zu entwickeln. Aber ein Wunschkonzert ist es nicht.

Tausende aus der Ukraine geflüchtete Kinder müssen ebenfalls unterrichtet werden. Wie soll das gehen?
Ich bin vorsichtig mit der Aussage, die Ukraine-Krise verursache ein Problem in unseren Schulen. Das signalisiert, man hätte kein Problem, gäbe es die Ukraine-Krise nicht. Wir hätten den Lehrermangel sowieso. Es gibt gute Lösungen, um geflüchtete Kinder in Klassen zu integrieren oder ihnen in Integrationsklassen, zum Beispiel vormittags, intensiv Deutsch zu unterrichten, um sie nachmittags in bestehende Klassen im Turnen, Singen oder Werken zu integrieren. Je nach Schulsituation und Anzahl geflüchteter Kinder passt das eine oder andere.

Angenommen, Sie haben fürs neue Schuljahr einen Wunsch frei. Welcher wäre das?
Ich wünsche mir, dass Eltern und Lehrpersonen einander auf Augenhöhe begegnen, Verständnis füreinander zeigen und dabei die eigene Rolle im Auge behalten. Ziel ist es, die Kinder und Jugendlichen möglichst gut zu fördern und ihnen dabei eine glückliche Schulzeit zu ermöglichen, an die sie sich genau so gern erinnern werden wie ich mich an meine.

Sylvie Kempa
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Von Sylvie Kempa am 14. August 2022 - 07:48 Uhr