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  4. Starke Mädchen werden die Welt erobern: Tipps von der Erziehungswissenschafterin

Wie aus Töchtern starke Frauen werden

«Mehr Dreck tut Mädchen gut»

Sie seien zu brav, zu angepasst, zu adrett angezogen, stört sich die Erziehungswissenschafterin Margrit Stamm. «Solche Mädchen schaffen es später im Berufsleben nicht an die Spitze.» Die emeritierte Professorin plädiert für mehr Dreck, weniger Glitzer – und hat noch viel mehr Tipps für Eltern von Töchtern, die dereinst die Welt erobern wollen.

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Closeup portrait of little girl aged 10 practicing karate in her room. The girl is lit by sunlight from the window.

Stark: Mädchen sollen nicht (nur) lieb und fleissig sein, sondern auch mal anecken, um sich durchsetzen zu können.

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Kürzlich sagte ein älterer Mann im Zug zu mir: «Ein herziges Baby haben sie, ich habe auch eine Enkelin, die sind halt braver als Buben.» Brav zu sein ist bei Erwachsenen offenbar immer noch erwünscht.
Für den Grossvater ist es natürlich angenehm, wenn er die Kinder hütet. Ein quirliger Bub macht da mehr Schwierigkeiten als ein angepasstes Mädchen. 

Weshalb stören sie sich an braven Mädchen?
Ich argumentiere aus Sicht der Gleichstellungsbemühungen. Frauen sollen erfolgreicher werden. In Studien sehen wir, dass Mädchen oft überangepasst sind. Trotz der modernen Erziehung, und obwohl viele Mütter auf Berufserfolg ausgerichtet sind.

Wo muss man also ansetzen?
Die Frauenbewegung setzt den Fokus zu stark auf erwachsene Frauen. Emanzipatorisch sind das ausgesprochen wichtige Bemühungen, ganz klar, aber was im Kindesalter passiert, wird meist vernachlässigt. Unsere Studien zeigen, dass Mädchen oft dann, wenns um Schulleistungen geht, hohe Selbstzweifel hegen. Bei Buben ist es genau umgekehrt: Sie verfügen bei gleichen Leistungen über ein hohes Selbstvertrauen und wenig Selbstzweifel. Explizit in Mathematik anerkennen Mädchen ihre gute Leistung erst, wenn sie besser sind als Buben.

«In der Frauenbewegung wird meist vernachlässigt, was im Kindesalter passiert.»

Was für Folgen haben diese Selbstzweifel?
Mädchen werden noch fleissiger, noch angepasster. Sie bemühen sich noch stärker um gute Noten, um Perfektion, das gefällt den Eltern und Lehrpersonen. Doch wenn diese seriösen Schülerinnen als junge Frauen im Berufsleben bestehen müssen, gelten plötzlich neue Regeln, andere Verhaltensmechanismen werden wichtig. 

Macht den jungen Frauen dann die Konkurrenz zu schaffen?
Genau. Sie müssen sich durchsetzen, widersprechen, manchmal als einzige Frau in einer Männerrunde – nachdem sie vielleicht vorher fast nur mit Mädchen respektive anderen Frauen zusammen waren. Sie sind sich nicht gewohnt, sich allein in einer Hierarchie durchzusetzen, haben zu wenig Selbstvertrauen, was die Selbstzweifel zusätzlich steigert. Sie leisten enorm viel, haben aber immer noch das Gefühl, sie seien zu wenig gut, sie könnten diesen Job nicht. Und weil sie zu wenig Durchsetzungskraft haben, nehmen sie sich zurück. Das ist einer der Gründe, weshalb wenige Frauen sich getrauen, an die die Spitze zu kommen.

Professorin Margrit Stamm

Die Erziehungswissenschafterin und emeritierte Professorin Margrit Stamm weiss, was Mädchen zu starken Frauen macht.

Raffael Waldner

Was sind die Gründe dafür?
Man könnte es sich leicht machen und sagen: Das sind die Gene. Aber diese Antwort wäre viel zu einfach. Sicher, ein paar genetische Unterschiede gibt es. Im räumlichen Denken sind Buben überlegen, Mädchen können ihre Emotionen besser kontrollieren. Aber wichtiger ist, was unsere Gesellschaft aus Mädchen und Buben macht. Hier sehe ich zwei Ursachen.

Nämlich?
In vielen Familien werden die Kinder nach wie vor geschlechtstypisch erzogen: Mädchen werden schön angezogen – das rosa Tutu ist ja mittlerweile gar strassentauglich. Kindergärtnerinnen erzählen mir, dass die Mütter ihren Mädchen sagen, sie dürften nicht in den Sandhaufen sitzen, damit das Röckli nicht dreckig werde. Sie werden also implizit zu Schönheit und Angepasstheit erzogen, dazu, adrett zu sein. Bei Buben lässt man viel mehr Robustheit, «Kämpfli» zu. Zudem überwiegt heute der überbehütende Erziehungsstil. Mädchen reagieren besonders darauf, sie verhalten sich so, wie man es von ihnen verlangt, schauen zu anderen, sind fleissig, bemühen sich um gute Noten, weil sie spüren, dass dies die Eltern freut.

Das kommt wohl auch in der Schule gut an.
Genau, und damit sind wir bei der zweiten Ursache: Die Schule kann dieses Verhalten verstärken. Ein Mädchen gilt als «gut», wenn es sozial integrierend ist, eine wohlige Atmosphäre verbreitet, wenn es in einer harmonischen Mädchengruppe ist. Ein risikobereites, forsches, schlagfertiges, durchsetzungsfähiges Mädchen hingegen wird in der Schule eher kritisiert. Es gilt dann als «gut und fleissig, aber vorlaut und unangepasst». Ähnliche Probleme haben feminine Buben: Fleissige, willige, angepasste Buben werden häufig ausgelacht. Mädchen und Buben werden immer noch in Schablonen gedrückt. 

«In der Schule gilt ein forsches, schlagfertiges Mädchen als vorlaut und unangepasst.»

Wie können speziell Eltern von Töchtern von klein auf dagegen halten?
Sie sollen ihre Töchter darin fördern, selbständig zu handeln, nicht immer gefallen zu wollen, und genau hinschauen: Was hat die eigene Tochter für Präferenzen? Ich bin nicht sicher, ob Ballettunterricht immer der Wunsch der Mädchen ist, oder viel mehr jener der Mütter – Ballett führt zu einer schönen, grazilen Haltung.

Soll man die Kinder in verschiedenen Vereinen schnuppern lassen?
Ja. Wir haben das bei unserem Sohn auch so gemacht, schlugen ihm zum Beispiel Judo oder Schwimmen vor. Er wollte dann aber trotzdem in den Fussballclub, was mir zuerst missfiel. Wegen den vielen relativ lässigen Buben, die denken, sie seien die coolsten Typen auf der Welt, und ihren Eltern, die sie als zukünftige Ronaldos sehen. Doch unser Sohn wollte das unbedingt, und das war auch gut so: Er war ein eher feinfühliger Bub und lernte dort, sich durchzusetzen. Ebenso soll man einem Mädchen Ballettunterricht ermöglichen, wenn es das selbst will. Aber es daneben auch ermuntern, zum Beispiel in die Pfadi oder in den Blauring zu gehen. Wichtig sind Freizeitbeschäftigungen mit anderen Kindern, wo die Gemeinsamkeit im Vordergrund steht. Ein Nachbarmädchen von uns spielt Fussball – es ist unglaublich, wie sie sich verändert hat, auch seit sie mit Buben spielt. Eine Mannschaftssportart fordert Mädchen heraus. Das fördert den Teamgeist, und sie müssen robust werden und sich gegen andere Teams durchsetzen.

Glückliches und dreckiges Mädchen spielt im Schlamm

Weniger Glitzer, mehr Dreck, das empfiehlt Erziehungswissenschafterin Margrit Stamm Eltern von Töchtern.

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Sollen Eltern darauf achten, dass ihre Töchter genau so oft mit Buben als mit Mädchen abmachen? Im Kindergarten kann man das ja noch leicht beeinflussen.
Ja, in der Zeit zwischen drei und sechs, sieben Jahren entwickeln Kinder das Bewusstsein für ihr Geschlecht. In dieser Phase schauen sie genau hin, wie sich die anderen benehmen, und übernehmen das, was ihnen Eindruck macht. Die Kindergartenlehrpersonen sind da ganz zentrale Bezugspersonen. Es ist wichtig, dass sie den Kindergarten nicht geschlechtstypisch strukturieren.

Wie können sie das tun?
Indem sie zum Beispiel auf eine Puppenecke verzichten und stattdessen einen neutraleren Spielort machen, der auch mit Spielsachen bestückt ist, die für Buben genau so interessant sind wie für Mädchen. Wir beobachten, dass Lehrpersonen, die bewusst darauf achten, relativ erfolgreich sind damit, der Geschlechterseparierung entgegenzusteuern. Wenn die Kleinen im Kindergarten mit Mädchen und Buben spielen, laden sie sich auch eher gegenseitig nach Hause ein. Ein Mädchen, das immer mit anderen Mädchen in der Puppenecke sitzt, wird auch in der Freizeit mit Mädchen spielen wollen. Auch die Schulen müssen von Geschlechtsstereotypen wegkommen, zum Beispiel Mädchen unterstützen im laut und wilder sein, ebenso sensiblere Buben. Man soll die Geschlechter nicht einander angleichen, sondern jedes Kind in seiner Art bestärken.

Was heisst das umgekehrt bei den Buben?
Buben sind häufig zu wenig sensibel, setzen sich selbst zu stark in den Mittelpunkt. Sie lässt man zu einseitig die männlichen Elemente ausleben, auch hier ist eine sensible Entwicklung nötig. Denn wir wollen ja Männer, die in den Familien einen egalitäreren Anteil übernehmen. Buben sollen fürsorglicher und sozial verträglicher werden, sich auch mal um ein schwächeres Mädchen kümmern. Und Mädchen sollen auch unangepasster sein dürfen. Mädchen und Frauen müssen sich bemühen darum, dass sie gesehen und gehört werden, da haben wir noch einiges vor uns.

Was sollen Eltern bei der Spielzeugbeschaffung für zu Hause beachten?
Es gibt die Tendenz, dass Mädchen eine Phase durchleben, während der sie eher mit Puppen spielen, und Buben mit Autos. Sie bleiben auch eher bei einer Baustelle stehen, was Mädchen kaum interessiert. Deshalb sollen auch Eltern darauf achten, bei den Spielsachen Gegensteuer zu geben, Mädchen zum Beispiel für technische Sachen zu begeistern. Beispielsweise, indem sie dann am Velo herumschrauben, wenn die Tochter dabei ist. Das heisst natürlich nicht, dass man die Bäbis verbannen muss. Ich habe dazu ein schönes Beispiel unserer Tochter: Die spielte eine Zeit lang oft mit Bäbis. Dann schenkten wir ihr eine Brio-Eisenbahn. Und was hat sie gemacht? Eine Doppelweiche in Puppenkleider gesteckt! Das hat mir fast das Herz gebrochen. Aber die Puppenphase ist ja relativ kurz. Auch manche Buben spielen gern mit Bäbis. Das soll man ihnen zugestehen. Wichtig ist, dass man beiden Geschlechtern verschiedene Angebote macht. Und dass Eltern Vorbilder sind. Als Paar ist man ja oft auch geschlechtsspezifisch organisiert.

«Man soll die Geschlechter nicht einander angleichen, sondern jedes Kind in seiner Art bestärken.»

Was können wir Eltern als Vorbilder dazu beitragen, dass unsere Töchter nicht zu angepasst werden?
Mehr Dreck ist wichtig! Mütter betreuen die Kinder in der Regel öfters als Väter, deshalb ist die Mutter das erste Vorbild, sie sollte sich auch selber die Hände schmutzig machen. Und sich nicht nach jedem Griff auf den Boden ihre Hände desinfizieren. Viele Eltern haben heute immer Desinfektionsmittel dabei. So wächst sicher kein Kind auf, das sich robust in der Umwelt bewegt … Und was die Vorbildfunktion der Väter angeht, ist es wichtig, dass sie auch alleine Zeit mit ihren Töchtern verbringen.

Warum?
Väter spielen anders mit Kindern. Sie sind weniger risikoscheu, machen riskantere Spiele, wirbeln sie früh durch die Luft, gehen als Erste auf die Rutschbahn mit ihnen. Mit dem Vater klettert die Tochter eher auf einen Baum, das macht sie mutig und gibt ihr das Selbstvertrauen, dass sie das kann.

Das beginnt wohl schon bei den allerersten Spielplatzbesuchen.
Ja, das fängt sehr früh an. Es gibt ja fünf- oder sechsjährige Kinder, die noch nie eine Schnecke vom Boden aufgelesen haben. Gehen Sie in den Wald mit den Kindern! Und gestehen Sie den Mädchen zu, dass sie beim Spielen auch mal blaue Flecken kriegen. Ermutigen Sie die Kinder, dass sie widersprechen dürfen. Es kann zwar mühsam sein, wenn das Kind etwas mit ihnen aushandeln möchte. Aber es ist wichtig, dass es lernt, selbst Entscheide zu fällen.

Mehr Infos zur Arbeit von Margrit Stamm siehe www.margritstamm.ch 

Von Christa Hürlimann am 6. März 2020 - 07:09 Uhr