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  4. ADHS: Tipps für einen entspannten Umgang mit der Diagnose

Starkstrom im Kopf

So erkennt ihr ADHS (und seine positiven Seiten)

ADHS ist überwiegend genetisch bedingt. In einer Familie können also mehrere von der Aufmerksamkeitsdefizitstörung betroffen sein. Ein neues Buch gibt Tipps für ein entspanntes Familienleben.

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ADHS

Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitäts-Störung - das fühlt sich an wie Starkstrom im Kopf.

DEEPOL by plainpicture

Die Aufmerksamkeitsdefizitstörung ist für viele negativ besetzt. Es gibt aber auch positive Seiten: Die meisten Menschen mit ADHS sind kreativ, fantasievoll, intelligent, hypersensibel, begeisterungsfähig, hilfsbereit, sozial und haben einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und Humor.

Betroffene sind zudem in guter Gesellschaft: Einstein, Mozart, Churchill, Picasso bis hin zu Marilyn Monroe und viele andere Prominenten waren davon betroffen. Unter den Lebenden zählen etwa Bill Cosby, Tom Cruise oder Emma Watson dazu.

Für die Psychotherapeutin und Autorin des Buchs «ADHS in der Familie», Dr. Ruth Huggenberger, sind es vor allem die Experimentierfreudigkeit, Zielstrebigkeit, der Durchhaltewillen bei der Realisation von Projekten im Hyperfokus, selbst wenn viele Versuche scheitern, die sie faszinieren. «Das Bild eines Menschen mit ADHS ist geprägt von geringer Frustrationstoleranz, raschem Aufgeben, sobald Widerstand entsteht. Ihren Steckenpferden gehen sie dagegen mit Passion nach.»

Bei ADHS ist ein gesellschaftliches Umdenken gefragt

Die negativen Seiten von ADHS verunmöglichen Betroffenen, ihr meist hohes kognitives Potenzial auszuschöpfen. Die Ignoranz gegenüber ADHS ist noch stark verbreitet. «Betroffene erleben dies nicht selten selbst, wenn sie ihre Diagnose nahestehenden Personen mitteilen. Die für Betroffene unerwartete Reaktion beinhaltet meist Vorwürfe: Du suchst nur eine Rechtfertigung für deine ungenügenden Leistungen, dein Zuspätkommen, dein Chaos. Solche Äusserungen sind für Betroffene wie eine Ohrfeige.»

Ruth Huggenberger plädiert für mehr Akzeptanz und Empathie. «Je mehr sachliche und wissenschaftsbasierte Aufklärung und Information erfolgen, was ADHS für diese Menschen bedeutet, desto schneller kann ein Umdenken stattfinden.»

Dr. Ruth Huggenberger

Dr. Ruth Huggenberger Psychotherapeutin in der Praxisgemeinschaft Theaterplatz, Baden AG.
«ADHS in der Familie. Strategien für den Alltag» von Ruth Huggenberger, mit Fallbeispielen und Lösungsansätzen. Hogrefe Verlag, www.hogrefe.ch, CHF 32.50

ZVG
Die drei spannendesten Fragen an die Autorin:

Frau Dr. Huggenberger, wenn man die Symptome von ADHS sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen betrachtet, scheinen die meisten von uns an ADHS zu leiden.
Wir haben alle mal Schwierigkeiten, uns zu konzentrieren, vergessen Termine, sind reizbar, unmotiviert oder unruhig. Das ist nichts Aussergewöhnliches. Massgeblich für ADHS sind die Stärke und die Häufigkeit der auftretenden Symptome sowie der Leidensdruck. Wir dürfen nie vergessen: Menschen mit ADHS stehen stets unter Strom wegen der Reizüberflutung, können schlecht abschalten, haben eine kürzere «Zündschnur». Wegen ihrer Konzentrationsproblematik können und konnten sie bereits in der Kindheit ihr meist hohes kognitives Potenzial nicht ausschöpfen. Die Reaktionen von Menschen mit ADHS sind für Aussenstehende oft unverständlich. In der Praxis erlebe ich beispielsweise immer wieder, dass Betroffene bei einem unkorrekt eingetragenen Termin unglaublich frustriert und wütend auf sich selbst sind und Mühe haben, sich zu beruhigen. Sie geben sich grosse Mühe, solche Fehler zu vermeiden, dennoch sind sie diesen Fehlleistungen teilweise «ausgeliefert». Dies führt zu einem massiven Leidensdruck.

Hat die Toleranz gegenüber Andersartigen abgenommen, oder hat ADHS tatsächlich zugenommen?
Die Analyse internationaler Studien im Kindes- und Erwachsenenalter hat ergeben, dass ADHS nicht per se zugenommen hat. Im deutschsprachigen Raum beschäftigen sich Forscher erst seit Kurzem mit der adulten ADHS/ADS. Aus diesem Grund rechne ich mit einer leichten Zunahme der Diagnosen von Erwachsenen mit ADHS. Was die Toleranz betrifft: Da diese Thematik stets präsenter wird in den Medien, kann die Gesellschaft die Augen davor nicht mehr verschliessen. Aufgrund der neuen Forschungsmöglichkeiten und Befunde ist es sehr schwer nachvollziehbar, weshalb die Kontroverse um die Existenz von ADHS weitergeführt wird.

Müssen ADHS-Betroffene ein Leben lang therapiert werden?
Die Therapie wird nicht lebenslänglich durchgeführt. Behandlung und Auseinandersetzung mit diesem Thema sind äusserst wichtig für die Verbesserung der Lebensqualität. Menschen können lernen, mit den ADHS-bedingten Defiziten umzugehen, und entwickeln im Idealfall Strategien, damit sie möglichst gut mit der Störung leben können. ADHS wächst sich nicht aus. Die Symptome können sich verändern, und der Umgang damit kann optimiert werden.

junge klettert

Starker Bewegungsdrang und exzessives Klettern können ein Merkmal von ADHS im Kindesalter sein.

Getty Images
So erkennt ihr ADHS bei euch und euren Kindern

Konzentrationsstörungen

Im Kindesalter

  • Schwierigkeiten, die Konzentration aufrechterhalten, leicht ablenkbar
  • Vergesslichkeit, Verlieren von wichtigen Gegenständen
  • Nicht zuhören können
  • Mangelndes Organisationsvermögen, Unordnung, Hausaufgaben-Problematik
  • Schwierigkeiten, Aufgaben zu beenden, ohne neue zu beginnen.
  • Selbständiges Arbeiten ist schwierig bis unmöglich

Im Erwachsenenalter

  • Schwierigkeiten, sich auf mehrere Dinge gleichzeitig zu konzentrieren. Gefahr, sich ablenken zu lassen, ist gross
  • Vermeiden von Aufgaben, die eine erhöhte Konzentration und Aufmerksamkeit fordern
  • Vermehrte Flüchtigkeitsfehler und eine längere Bearbeitungszeit
  • Mangelndes Zeitmanagement (Zuspätkommen, Einhalten von Terminen nicht möglich oder erst im letzten Moment). Extremes Aufschieben
  • Verschiedene Arbeiten werden begonnen und nicht beendet
  • Anpassendes Verhalten (Delegieren, Spezialisierung im Nischenberuf etc.) wird zu wenig genutzt

Impulsivität

Im Kindesalter

  • Mit Aussagen herausplatzen, ohne nachzudenken
  • Nicht abwarten können, bis man an der Reihe ist
  • Mitschüler ablenken, Stören des Unterrichts
  • Bei Provokation: Handeln vor denken

Im Erwachsenenalter

  • Geringe Fsrustrationstoleranz führt zu vorschnellen Kündigungen oder zum Beenden von Beziehungen, sobald Konflikte auftauchen
  • Übereilte Entscheidungen treffen, auch im Kaufverhalten
  • Nicht lange bei einer Tätigkeit verweilen können wegen Ungeduld oder Langeweile
  • Probleme im Strassenverkehr

Hyperaktivität

Im Kindesalter

  • Motorische Unruhe, Zappeligkeit
  • Nicht still sitzen können.
  • Starker Bewegungsdrang und exzessives Klettern
  • Unvermögen, ruhig zu spielen und zu arbeiten
  • Immer auf dem Sprung sein, Motor nicht abstellen können
  • Starker Rededrang, Geschwätzigkeit

Im Erwachsenenalter

  • Motorische Unruhe, Spielen mit Gegenständen, wie auch innere Unruhe
  • Belastung des Familienlebens durch permanente Unrast
  • Exzessiv Sport treiben
  • Symptome äussern sich eher auf der Gefühls- als auf der Verhaltensebene (Reizbarkeit)
  • Pausenloses Arbeiten, zu viele Aktivitäten in der Freizeit
  • Probleme in der Kommunikation

 

Von Verena Thurner am 24. Juli 2019 - 13:34 Uhr