Harmonie, Dankbarkeit, Wertschätzung – das ist nur eine Seite des Muttertags. Der Feiertag, der in der Schweiz traditionell am zweiten Sonntag im Mai begangen wird, löst auch schwierige Gefühle aus: Schmerz, Trauer, Einsamkeit.
Der Begriff «Muttertagstrauer» beschreibt ein Phänomen, das weit mehr Menschen betrifft, als man auf den ersten Blick vermuten würde. «Der Muttertag hat als Feiertag etwas Ausschliessendes», sagt Jeannine Donzé (50), psychologische Beraterin und Autorin des Buches «Was wir in die Welt bringen – Frauen zwischen ‹kinderlos› und ‹kinderfrei›».
Jeannine Donzé (50) ist psychologische Beraterin mit eigener Praxis in Bern. Sie begleitet vor Ort und online Frauen und Paare rund um das Thema Kinderwunsch – sei es bei Ambivalenz, unerfülltem Wunsch, vorgeburtlichen Verlusten oder nach reproduktionsmedizinischen Eingriffen. In ihren Gesprächsgruppen «Frausein ohne Kind» in Bern und online bietet sie Raum für Austausch und Reflexion. Donzé ist zudem Autorin des Buches «Was wir in die Welt bringen – Frauen zwischen ‹kinderlos›» und ‹kinderfrei› (Zytglogge, 2021) und setzt sich für eine differenzierte Sicht auf weibliche Lebensentwürfe jenseits der Mutterschaft ein.
Pia Neuenschwander«Die Gesellschaft feiert ein stilisiertes Mutterbild und schliesst all jene aus, die diesem Bild nicht entsprechen.» Anders als Weihnachten oder Ostern, das auf universelle Werte wie Gemeinschaft oder Familie fokussiert, hebt der Muttertag eine spezifische Rolle hervor – die der biologischen, fürsorglichen Mutter im traditionellen Sinn. Und genau das kann für viele zur Belastung werden – nicht nur für Frauen ohne Kinder.
Frauen mit unerfülltem Kinderwunsch trauern an diesem Tag besonders intensiv: um eine Vorstellung vom Leben, die sich nicht erfüllt hat, um einen Lebensentwurf, den sie nicht leben können. Manche betrauern das nie erlebte Gefühl einer Schwangerschaft oder das soziale Ausgeschlossensein, wenn andere ihre Mutterschaft zelebrieren. «Ein unerfüllter Kinderwunsch ist biografisch genauso bedeutsam wie Mutterschaft», betont Donzé. «Er fordert eine tiefgreifende Neuorientierung und verlangt Trauerarbeit, die mit einem Todesfall vergleichbar sein kann.»
Muttertagstrauer trifft auch Mütter
Aber auch bei Müttern kann der Feiertag schwierige Emotionen auslösen – etwa wenn sie ein Kind vor oder nach der Geburt verloren haben, der Wunsch nach einem weiteren Kind unerfüllt bleibt, ihr Kind beeinträchtigt oder schwer krank ist oder der Kontakt zu den Kindern abgebrochen ist. Auch Mütter, die sich nach Wertschätzung sehnen und an diesem Tag leer ausgehen, sind betroffen – ebenso wie ältere Frauen, die vergeblich darauf hoffen, Grossmutter zu werden.
Söhne und Töchter, die ihre Mutter verloren haben, spüren an diesem Tag die Leere besonders stark.
IMAGO/ZoonarAlleinerziehende erleben den Muttertag oft ambivalent: Die gesellschaftliche Erzählung von Frühstück im Bett, Blumensträussen und liebevollen Gesten wirkt für viele wie eine ferne Utopie. Sie müssen den Tag allein stemmen – und spüren den Mangel an Anerkennung umso deutlicher. «Es fühlt sich an diesem Tag an, als wäre das eigene Versagen greifbar», heisst es in einem Erfahrungsbericht. Während andere sich feiern lassen, bleibt ihnen oft nur stille Erschöpfung.
Wie Betroffene die Trauer in Schach halten
Donzé rät Betroffenen, dem Tag nicht ohnmächtig gegenüberzustehen, sondern ihn bewusst und proaktiv zu gestalten: «Was hilft, ist Selbstfürsorge. Fragen Sie sich: Was würde mir heute guttun? Eine Wanderung, ein Ausflug, ein Treffen mit anderen Betroffenen?» Wer handelt, statt passiv zu erleiden, gewinnt ein Stück Autonomie zurück.
Durch persönliche Trauerverarbeitung oder fachliche Begleitung gelingt es vielen Frauen, einen Perspektivenwechsel zu erreichen: «Man kann Kinderlosigkeit auch als Kinderfreiheit begreifen», so Donzé. «Ein Leben ohne Kind lässt Raum für andere Formen von Bindung, Kreativität und Sinn. Viele kinderlose Paare erleben eine intensive Partnerschaft, weil sie nicht durch äussere Umstände zusammengehalten werden oder tiefe Befriedigung in einem Hobby oder im Beruf.» Dabei gehe es nicht darum, Schmerz zu leugnen, sondern ihn zu integrieren – und neue Wege der Sinnfindung zu entdecken.
Was Betroffenen wirklich hilft
Nicht vergessen: Trauer – zum Beispiel nach Kindsverlust – ist kein linearer Prozess. Sie kommt in Wellen, besonders an sogenannten «Triggertagen» wie Muttertag, Geburtstag oder Todestag. Die Trauer ist nie abgeschlossen. Kleine Gesten, ein Anruf, eine Kerze – auch Jahre später – können Trost spenden. Es geht darum, Betroffenen das Gefühl zu geben, gesehen und begleitet zu werden.
Wertschätzung zeigen: Wertschätzung muss sich nicht nur an Mütter richten. Der Muttertag kann auch Anlass sein, Frauen ohne Kinder zu würdigen. Zum Beispiel mit einer Karte, einem Dankeschön, einem ehrlichen «Ich bin froh, dass es dich gibt». Wer sensibel mit dem Thema umgeht, schafft Raum für ehrliche Gefühle – ohne selbst auf die Freude verzichten zu müssen.
Verbindendes suchen: Die Gesellschaft neigt dazu, Frauen in zwei Lager zu spalten: Mütter und Nicht-Mütter. Verständnis füreinander ist selten. Donzé plädiert deshalb für eine neue Perspektive: «Anstatt das stilisierte Mutterbild zu feiern, könnten wir das Frausein und die Mütterlichkeit ins Zentrum rücken. Mütterlichkeit als Fürsorge, als liebevolle Haltung – die in ganz verschiedenen Arten von Verbundenheit erlebt werden kann, ganz unabhängig von biologischer Mutterschaft.» Diese Form der Anerkennung wäre inklusiver und würde viele Menschen mit einbeziehen, die sich derzeit ausgeschlossen fühlen.