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Juristin Laavanja Sinnadurai

Vom überwachten Mädchen zur Stimme für Secondas

Als Kind schämte sich Laavanja Sinnadurai manchmal für ihre Hautfarbe. Nun vermittelt die Schweizerin mit tamilischen Wurzeln als Mediatorin zwischen den Kulturen und stärkt mit ihrem Herzensprojekt das Selbstbewusstsein junger Secondas.

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Tamilische Mädchen Migration Integration Schweiz

Kultureller Spagat: Die Eltern kommen aus Sri Lanka, die Töchter wachsen in der Schweiz auf (Symbolbild).

Getty Images
Maria Ryser
Maria Ryser

Der Mann blickt wütend auf den Tisch. Die Ehefrau sitzt versteinert auf dem Stuhl. Daneben, ihr Sohn, ein Teenager, trotzig, stumm. Eine Situation, die zum Alltag von Laavanja Sinnadurai, 30, gehört.

Die Schweizerin mit tamilischen Wurzeln arbeitet seit über einem Jahr nebenberuflich als Mediatorin und interkulturelle Vermittlerin bei Kontextbern, einem Zusammenschluss kreativer, sozialpädagogischer Fachpersonen, die verschiedene Dienstleistungen im behördlichen Kindesschutz anbieten.

Das Arbeitsethos von Kontextbern? Die aufrichtig interessierte Begegnung mit Menschen in Krisen. Ihr Credo? Probleme sind noch nicht gefundene Lösungen. 

Laavanja Sinnadurai Juristin Mediatorin Mai 2020

Laavanja Sinnadurai ist in der Schweiz geboren und hat an der Universität Bern Rechtswissenschaften studiert.

ZVG
Die Seconda bricht das Eis

«Die grösste Hürde ist immer am Anfang, in den ersten Sitzungen, bis das Eis gebrochen ist und ich das Vertrauen der beteiligten Menschen gewinnen konnte», sagt Sinnadurai.

Ihr hilft dabei, dass sie sich bis in die hinterste Faser in den Migrationshintergrund ihres Gegenübers hineinversetzen kann – und dass sie dessen Sprache spricht.

Laavanja Sinnadurai, die sich nach ihrem Master in Law zur Mediatorin ausbilden liess, kennt die innere Zerrissenheit und den kulturellen Spagat der in der Schweiz lebenden Tamilen aus eigener Erfahrung. Ihr Vater flüchtete 1983, ihre Mutter 1988 von Sri Lanka in die Schweiz. Sie selbst wurde 1990 in Bern geboren.

«Als Kind habe ich mich manchmal für mein Anderssein geschämt, sogar für meine Hautfarbe. Ich wollte wie die anderen Schweizer Kinder sein und einfach nur dazugehören.»

Im Laufe der Zeit habe sie gelernt, ihr Anderssein als ihre Stärke zu nutzen, zum Beispiel während ihrer Zeit als Jus-Studentin, wo sie als Dolmetscherin für die Justizbehörde arbeitete. «Heute bin ich stolz auf meine zwei Kulturen und bin gerne eine Stimme für Secondas», sagt sie.

«Laavanja Sinnadurai ist unser schweizerisch-tamilisches Sackmesser auf zwei Beinen.»

Beschreibung auf kontextbern.ch
Rollenbilder, die kollidieren

Rund 50'000 Tamilen leben in der Schweiz. Vom Flüchtling, der eben angekommen ist, bis zur jungen Frau, die in dritter Generation hier aufwächst. Konfliktpotential gibt es genug. Oft sind es unterschiedliche Rollenbilder, die aufeinanderprallen.

Da ist zum Beispiel der Mann, der erst seit wenigen Jahren in der Schweiz wohnt und als Hilfskoch arbeitet. Er verliebt sich in eine Tamilin, die hier aufgewachsen ist und eine Ausbildung absolviert hat. Sie heiraten, haben Kinder.

«Die emanzipierte Frau will sich nicht unterordnen. Sie provoziert ihn verbal. Er kennt als Vorbild nur den autoritären Vater, kann sich nicht ausdrücken, hat es nie gelernt. Er ertränkt seine Minderwertigkeitskomplexe in Alkohol und wird gewalttätig», sagt Sinnadurai.

Sie hört beiden Parteien empathisch zu, vermittelt, lässt den Gefühlen Raum und Zeit und zeigt Strategien auf. Dabei redet sie immer Klartext, klärt über Schweizer Rechte und Pflichten auf.

«Laavanja Sinnadurai ist unser schweizerisch-tamilisches Sackmesser auf zwei Beinen», steht auf der «kontextbern.ch»-Website über die engagierte Mitarbeiterin. Ihrem optimistischen und fröhlichen Naturell bleibt sie dabei stets treu.

Streng überwachte Mädchen

Genug Zündstoff für Streit gibt es auch zwischen den Generationen. «Tamilische Mädchen aus traditionellen Familien zum Beispiel werden sehr streng erzogen und überwacht. Sie dürfen sich kaum autonom bewegen», erzählt Sinnadurai.

«Gleichzeitig sehen sie ihre Schweizer Freundinnen, die in den Ausgang gehen oder einen Freund haben. Also tun sie diese Dinge heimlich. Werden sie von den Eltern erwischt, ist der Streit vorprogrammiert». Auch hier schlägt sie eine Brücke und sorgt für gegenseitiges Verständnis zwischen den Generationen.

Lavaanja Sinnadurai Juristin Mai 2020

«Tamilische Mädchen aus traditionellen Familien werden sehr streng erzogen und überwacht. Sie dürfen sich kaum autonom bewegen», sagt Sinnadurai.

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Interreligiöser Dialog mit Kindern

Ein Projekt liegt der studierten Rechtswissenschaftlerin besonders am Herzen. Im Auftrag von Kontextbern besucht sie Schweizer Grundschulen und bringt im Rahmen eines interreligiösen Dialogs den Kindern ihren Glauben, den Hinduismus, näher.

Hier unternimmt sie eine virtuelle Reise mit den Kindern nach Sri Lanka, zu den Elefanten und Tempeln. Dazu gehört auch der traditionelle tamilische Tanz, der sogenannte Bharadanatyam, den sie seit zwanzig Jahren leidenschaftlich ausübt.

«Mich interessiert die direkte Begegnung und der Dialog über verschiedene Glaubensrichtungen und Kulturen.» Es berührt sie jedesmal, wenn sie im Sari, dem traditionellen tamilischen Gewand, ins Schulzimmer kommt, die Veenai, ein Saiteninstrument, auspackt und eine Schar leuchtender Kinderaugen um sich hat, die begeistert Fragen stellen.

Lavaanja Sinnadurai Juristin Mediatorin Mai 2020

Im Sari und mit dem roten Punkt auf der Stirn nimmt Lavaanja Sinnadurai Schweizer Schulkinder mit auf eine virtuelle Reise nach Sri Lanka.

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«Da fliesst mir das Herz über»

Nicht selten komme es dabei vor, dass ein tamilisches Schulkind bei ihrem Anblick im Sari und dem Punkt auf der Stirn zuerst beschämt auf den Boden blicke. «Dann realisiert das Mädchen plötzlich, dass die anderen Kinder sich für ihre Kultur interessieren und taut dabei immer mehr auf», erzählt Sinnadurai.

«Wenn ich diesen Wandel von der Scham zum stolzen Selbstbewusstsein miterleben darf, fliesst mir das Herz über», sagt sie mit begeisterter Stimme und es wird klar: Darin hat Laavanja Sinnadurai eine Lebensaufgabe gefunden.

Von Maria Ryser am 21. Mai 2020 - 18:09 Uhr