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  4. Kaliumiodid / Jodtabletten: Wie Vorsorgen angesichts nuklearer Bedrohung im Ukraine-Krieg?

Panik ist nicht angebracht, Vorsorge schon

Was wir über Kaliumiodid-Tabletten wissen sollten

Der Krieg in der Ukraine schürt die Angst vor einer nuklearen Bedrohung. Wie realistisch ist das Szenario und wie können wir uns und unsere Kinder im Ernstfall schützen? Ein Expertengespräch.

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Mutter mit Kind

Viele Eltern in der Schweiz machen sich angesichts der Nachrichten aus dem Ukraine-Krieg Sorgen um die Zukunft und die Gesundheit ihrer Kinder.

Getty Images

Der russische Präsident Putin droht im Krieg mit der Ukraine mit dem Einsatz von Atomwaffen. Dazu kommt vergangene Nacht die Meldung, dass das grösste Atomkraftwerk Europas in der Nähe der Grossstadt Saporischschja unter Beschuss geraten ist. Ein Brand konnte mittlerweile gelöscht werden. Dennoch schüren solche Meldungen die Angst vor dem nuklearen Ernstfall.

Dies zeigt sich auch in der Nachfrage nach besonders hoch dosierten Kaliumiodid-Tabletten, welche im Ernstfall (und nur auf behördliche Anweisung hin) eingenommen werden, um die Aufnahme radioaktiven Jods durch die Schilddrüse zu blockieren. Unser Nachbarland Österreich vermeldete bereit vor drei Tagen, dass die Tabletten für Erwachsene vergriffen seien. Wie sieht es in der Schweiz aus? Sollten wir uns Sorgen machen? Und welche Vorsorge ist angebracht? Michael Brügger, Mandatsleiter der Geschäftsstelle für Kaliumiodid-Versorgung im Auftrag der Armee-Apotheke, beantwortet die wichtigsten Fragen.

Michael Brügger, bemerken Sie einen Anstieg der Nachfrage nach Kaliumiodidtabletten in der Schweiz?
Massiv, ja. Seit ungefähr einer Woche ist eine erhöhte Nachfrage nach «Kaliumiodid 65 AApot»-Tabletten erkennbar. Bereits nach dem Reaktorunglück in Fukushima vor 11 Jahren haben wir diese Reaktion bemerkt. Der Krieg in der Ukraine löst die Nachfrage durch die geografische Nähe noch stärker aus. Wir bemerken, dass sich nun viele Menschen damit beschäftigen, ob sie ihre Tabletten noch griffbereit haben und, falls nicht, wie sie diese beziehen können.

Ist die Sorge denn begründet?
Die Bevölkerung hat in den vergangenen Tagen vermehrt nachgeschaut, wo ihre Tabletten eigentlich sind und wieviele davon sie haben. Durch die aktuellen Nachrichten aus der Ukraine gibt es eine gewisse Sensibilisierung für das Thema.

«Wenn man infolge Umzug oder Familienzuwachs feststellt, dass man nicht für jede Person eine Packung an Lager hat, ist das erst einmal nicht tragisch»

Michael Brügger, Geschäftsstelle für Kaliumiodid-Versorgung

Wieviele Tabletten sollte man denn an Lager haben?
In der Schweiz ist die Jodtabletten-Verordnung in Kraft, die bestimmt, dass alle Menschen vom Kleinkind bis zum Senior, die im Umkreis von 50 Kilometern um ein schweizerisches Kernkraftwerk wohnen, mit einer Packung «Kaliumiodid 65 AApot»-Tabletten versorgt werden. Jede Packung enthält zwei Blister à 6 Tabletten und sollte damit in einem Notfall auch für die Nachbarschaftshilfe ausreichen.

Also reichen zwei Packungen für eine vierköpfige Familie?
Für eine vierköpfige Familie können zwei Packungen ausreichen. Die Dosierung reicht bei Kindern von einer Vierteltablette im Neugeborenenalter über eine halbe Tablette bis drei Jahre bis hin zu einer einzigen Tablette im Alter von 4 bis 12 Jahren. Wenn man also infolge Umzug oder Familienzuwachs nun feststellt, dass man nicht für jede Person eine Packung an Lager hat, ist das erst einmal nicht tragisch. Im Idealfall ist ein Haushalt jedoch mit einer Packung «Kaliumiodid 65 AApot» pro Person bestückt.

Kaliumiodid 65 AApot

Laut Jodtabletten-Verordnung ist die Armee-Apotheke verpflichtet, dauernd eine genügende Reserve an «Kaliumiodid 65 AApot»-Tabletten für die gesamte Bevölkerung in Reserve zu halten.

Dominic Koch

Gilt das ab Geburt?
Ja. Vielerorts klappt die Versorgung bei Familienzuwachs innerhalb der Zone von 50 Kilometern um ein schweizerisches Kernkraftwerk gut und den Eltern wird nach der Geburt ein Bezugsschein für eine Packung von der Gemeinde zugestellt. Falls dies nicht geschehen ist, können sich Eltern aktiv bei der Gemeinde melden, wenn sie innerhalb dieser Zone leben.

Wie komme ich zu neuen Tabletten, wenn ich meine nicht mehr finde oder ausserhalb des 50-Kilometer-Radius lebe und gar nie Tabletten erhalten habe?
Innerhalb des 50-Kilometer-Radius erfolgte die Verteilung der Kaliumiodid-Tabletten direkt an die Bevölkerung. Bei Verlust der Kaliumiodid-Tabletten können diese bei einer Apotheke in der Zone 50 Kilometer um ein schweizerisches Kernkraftwerk gegen einen Betrag von 5 Franken bezogen werden. Für die Bevölkerung, die nicht innerhalb dieses Radius lebt, also zum Beispiel in Genf oder im Tessin, wurden kantonale Lager eingerichtet und letztmals im 2020 neu bestückt. Im Ernstfall würde der Kanton sich um die Verteilung kümmern. Derzeit müssen Privatpersonen in diesen Zonen ausserhalb eines Umkreises von 50 km eines schweizerischen Kernkraftwerkes keine Jodtabletten lagern. In der Schweiz wird jedem Menschen eine Packung «Kaliumiodid 65 AApot»-Tabletten zur Verfügung stehen. Entweder zuhause oder in einem kantonalen Lager.

«In der Schweiz wird jedem Menschen eine Packung Kaliumiodid-65-AApot-Tabletten zur Verfügung stehen. Entweder zuhause oder in einem kantonalen Lager.»

Michael Brügger, Geschäftsstelle für Kaliumiodid-Versorgung

Wie beugt man Hamsterkäufen vor?
Apotheken sind angehalten, aufmerksam zu sein und insbesondere aufzuklären.

Wirken die Jodtabletten bei Kindern anders als bei Erwachsenen?
Je jünger jemand ist, desto empfindlicher reagiert die Schilddrüse auf radioaktives Jod und desto höher ist das Risiko einer späteren Entwicklung eines Schilddrüsenkrebs. Das heisst, dass vor allem Kleinkinder und Kinder vor einer Strahlenexposition geschützt werden müssen. Experten schätzen, dass ihr Risiko, an Krebs zu erkranken, bei einer ungeschützten Exposition etwa zehn Mal höher ist als das von jungen Erwachsenen. Je älter man wird, desto unempfindlicher wird die Schilddrüse gegenüber radioaktivem Jod und desto kleiner wird das Risiko eines späteren Schilddrüsenkrebs. Eine Einnahme dieser Tabletten wird von verschiedenen Experten jedoch auch für über 45-Jährige empfohlen, wenn bei Austritt von Strahlung mit einer Strahlenabsorption von über 1 Gray zu rechnen ist. Expertenschätzungen gehen davon aus, dass Leute über 45 Jahre ein bis zehnfach geringeres Risiko haben als junge Erwachsene. In der Schweiz wurde beschlossen, für alle Einwohnerinnen und Einwohner unabhängig ihres Alters «Kaliumiodid 65 AApot»-Tabletten einzulagern.

«Es ist wichtig, dass Lehrkräfte oder Betreuungspersonen über eine allfällige Jodallergie oder Schilddrüsenkrankheit Bescheid wissen»

Michael Brügger, Geschäftsstelle für Kaliumiodid-Versorgung

Man sollte die Tabletten weder zu früh noch zu spät einnehmen. Wie erfährt man im Ernstfall den richtigen Zeitpunkt?
In einem Ereignisfall wird die Bevölkerung mittels Sirenenalarm aufgefordert, Radio zu hören. In diesem Zusammenhang verweisen wir auch auf die «AlertSwiss»-App des Bundesamt für Bevölkerungsschutz BABS. Die Behörden ordnen über Radio und weitere Medien Massnahmen an, um die Bevölkerung vor eventuell austretender Radioaktivität zu schützen. Die Einnahme darf nur auf Anordnung der Behörden erfolgen. Bei einer konkreten Gefährdung durch radioaktives Jod ordnen die Behörden über Radio und anderen Medien sowohl die Bereitstellung als auch falls erforderlich die Einnahme der Jodtabletten an.

Was, wenn ein Kind im Ernstfall gerade in der Schule ist?
Bei einem Störfall beim einem schweizerischen Kernkraftwerk mit Austritt von Radioaktivität gekoppelt mit einer Anordnung der Behörde dürfen Lehrkräfte und Betreuungspersonen Jodtabletten an Kinder abgeben. Das genaue Vorgehen sollte im Krisenmanual der Schule oder Kindertagesstätte beschrieben sein. Es ist wichtig, dass Lehrkräfte oder Betreuungspersonen über eine allfällige Jodallergie oder Schilddrüsenkrankheit Bescheid wissen.

Dies Versorgung mit Kaliumiodidtabletten wurde vorwiegend für einen Kernkraftwerk-Unfall in der Schweiz eingesetzt. Ist es überhaupt realistisch, dass ein nuklearer Ernstfall in der Ukraine dazu führen könnte, dass in der Schweiz eine Jodblockade indiziert ist?
Das Szenario ist denkbar. Wichtig ist, dass die Bevölkerung weiss, wo die «Kaliumiodid 65 AApot»-Tabletten aufbewahrt sind.

Von KMY am 4. März 2022 - 13:34 Uhr