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  4. ADHS: Das sollten Eltern von zappeligen Kindern wissen

Muss ich mein Kind abklären lassen?

Wie wir Eltern Kindern mit ADHS helfen können

Sie können sich nicht konzentrieren, wollen immer die Chefin oder der Chef sein und machen sich mit ihrem zappeligen Verhalten keine Freunde: Kinder mit Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung ADHS. Betroffene Eltern können in einem Kurs lernen, wie sie ihr Kind am besten unterstützen. Wir haben bei der Expertin nachgefragt.

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Mädchen ist Aussenseiterin im Klassenzimmer

Wer immer unruhig ist und andere stört, sitzt bald alleine da – deshalb ist es wichtig, dass Eltern von Kindern mit ADHS wissen, wie sie ihnen helfen können.

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Kinder mit Aufmerksamkeits-und Hyperaktivitätsstörung ADHS sind unruhig, können sich schlecht auf eine Aufgabe konzentrieren, haben Stimmungsschwankungen – wie viele andere Kinder (und Erwachsene) auch. Ab wann müssen sich Eltern Sorgen machen?
Jacqueline Suter-Pfeiffer: Frühestens im Kindergarten, wenn sich erste Kontakte von aussen ergeben. Die Kindergärtnerin kann beurteilen, ob ein Kind sich nicht anpassen kann. Wenn es nicht spielt, viel weint und sich nicht vom Mami trennen kann, unruhig und zappelig ist, viel streitet und andere Kinder haut. Die Eltern gehen dann meistens zum Kinderarzt, und dieser überweist die betroffenen Familien an uns.

Manchmal scheint es, dass bei zappeligen Kindern etwas schnell von ADHS die Rede ist.
Ja, es ist eine Modeerscheinung geworden. Viele Leute meinen genau zu wissen, was ADHS ist. Wenn man dann aber genauer hinschaut, zeigt sich, dass es vielleicht auch einfach eine spezielle Phase des Kindes ist. Wir alle sind mal unruhig und aufgewühlt oder hören nicht zu. Wenn es aber im Kindergarten oder in der Schule Probleme gibt, sollten sich Familien Hilfe holen.

Wenn die Diagnose ADHS Tatsache ist – was dann?
Dann schauen wir zuerst mit den Eltern, was sie und was ihre Kinder brauchen. Wir machen ein Eltern-Coaching, bei dem das Kind noch nicht involviert ist. In ganz vielen Fällen reicht das schon. Seltener wird das Kind zudem noch therapeutisch/ psychiatrisch begleitet. Wichtig ist, dass wir den Leidensweg des Kindes verkürzen. Denn wird die Diagnose nicht gestellt, findet es viel schwerer Anschluss. Weil es «mühsam» ist, nicht spielen kann, immer der Chef sein will, wie ein Leitwolf, der sich nicht anpassen kann.

Was ist ADHS?

Beim Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) handelt es sich um eine angeborene, neurobiologische Funktionsstörung, an der genetische und umweltbedingte Faktoren beteiligt sind. Untersuchungen weisen darauf hin, dass bei ADHS die Transportersysteme im Gehirn gestört sind. Dadurch können bestimmte Informationen nur unzureichend verarbeitet werden. Hinzu kommen Umweltfaktoren, die ein ADHS begünstigen:

  • meist sind mehrere Familienmitglieder betroffen (hohe genetische Komponente)
  • Rauchen, Alkohol- oder Drogenkonsum oder Infektionskrankheiten während der Schwangerschaft, Frühgeburt
  • gestörtes Gleichgewicht der Botenstoffe (Neurotransmitter) Dopamin, Noradrenalin und Serotonin

Quelle: Psychiatrie St. Gallen Nord, www.psgn.ch

Wie können die Eltern ihrem Kind helfen?
Indem sie lernen, abzuwarten, ruhig zu bleiben und nicht zu fest auf andere zu hören, sondern dem eigenen Bauchgefühl zu vertrauen. Wenn Mama und Papa ruhiger werden und mehr Selbstvertrauen in ihr «Elternsein» aufbauen, spürt dies das Kind und wird selber automatisch auch ruhiger. Wichtig ist auch, dass wir den Eltern im Coaching immer wieder aufzeigen, dass sie die Experten Ihrer Kinder sind.  

Wie lernen das betroffene Eltern bei ihnen im Kurs?
Indem wir aufzeigen, wie sie gewisse Situationen ruhiger angehen können. Die Diagnose kann nämlich auch vorschnell als Entschuldigung dienen: «Unser Kind ist halt so, weil es ADHS hat.» Im Kurs erzählen die Eltern von unangenehmen Momenten, zum Beispiel bei einem Restaurantbesuch: «Das Kind tut so blöd, und alle schauen zu uns.» Klar, dass da die Eltern schon im Vornherein gestresst sind. Im Kurs stellen sie solche Situationen in Rollenspielen nach, und wir geben Tipps, was sie anders machen könnten.

Wie können Eltern etwa den Besuch im Restaurant entspannter angehen?
Sie sollten den Restaurantbesuch zum Beispiel zu Hause vorbesprechen und den Kindern klar aufzeigen, was sie als Eltern von ihnen erwarten. Und dann darauf achten, dass der Aufenthalt im Restaurant nicht zu lange dauert. Im Kurs lassen wir die jeweils sechs Elternpaare sich untereinander austauschen, wie sie es machen. Das wird schnell persönlich und ist nicht immer einfach. Wir können so viel vorbereiten wie wir wollen – es läuft immer wieder anders.

kind im retaurant

Restaurantbesuche können Eltern von Kindern mit ADHS schon im Vorfeld stressen.

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Gibt es dennoch Situationen, die bei allen betroffenen Familien vorkommen?
Ja, viele Eltern erzählen, dass die Kinder nicht ins Bett wollen und nicht zuhören. Sie haben Mühe, Freunde zu finden, werden nicht an Geburtstage eingeladen. Sie stehen sich immer wieder selber im Weg, können ihre kognitiven Fähigkeiten oft nicht nutzen.

Täuscht es, oder gibt es heute mehr ADHS-Betroffene?
Das würde ich nicht unterschreiben. Der Begriff ist wohl einfach mehr im Fokus. In der Schule wird heute viel gefordert, Kinder gehen früher in den Kindergarten, schon Vierjährige müssen ruhig im Kreis sitzen können. Entsprechend sind die Eltern gefordert – und schneller verunsichert, sie fragen sich: «Mache ich es richtig oder falsch?» Früher haben sie es einfach gemacht.

Jacqueline Suter-Pfeiffer ist Leiterin Soziale Arbeit bei der Stiftung Kinder- und Jugendpsychiatrische Dienste St. Gallen. Die Sozialpädagogin leitet dort zusammen mit einer Ärztin/Psychologin den Coaching-Kurs für Eltern von Kindern ab sechs Jahren mit der Diagnose ADHS. Demnächst beginnt der 14. Kurs.

Von Christa Hürlimann am 26. August 2019 - 10:05 Uhr