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Historikerin Elisabeth Joris

«Vereinbarkeit ist kein Frauenproblem»

Was bringen Kita-Subventionen? Ganz gewiss: hitzige­ ­Diskussionen! Die Zürcher Frauenhistorikerin Elisabeth Joris über alte Rollenbilder und neue Familienmodelle, über Teilzeitväter und selbstlose Grossmütter.

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Elisabeth Joris, Historikerin fotografiert am 27. Februar 2023 bei ihr zu Hause in Zürich. Elisabeth Joris, Historikerin und Pionierin der Schweizer Frauenrechtsbewegung fotografiert am 27. Februar 2023 bei ihr zu Hause in Zürich.  

«Ein Leben in der Kleinfamilie wäre für mich nicht infrage gekommen»: Joris in einem Kunterbunt aus Büchern und Spielsachen.

Corinne Glanzmann

Frau Joris, haben Sie nach der Geburt Ihres ersten Sohnes 1977 weniger gearbeitet als vorher?
Nein, ich war gerade dabei, mein Studium als Historikerin abzuschliessen, und unterrichtete daneben an einer Kantonsschule. Natürlich war diese Dreifachbelastung – Forschung, Beruf und Muttersein – anstrengend. Aber ich wollte finanziell unabhängig sein und mit der Gewissheit leben: Sollten mein Mann und ich uns irgendwann trennen, könnte ich auch alleine für mich und meinen Sohn sorgen. Nun – wir sind immer noch zusammen (lacht).

Wie haben Sie die Kinderbetreuung gelöst? 
Als ich schwanger war, zogen mein Mann und ich in eine Wohngemeinschaft mit sechs anderen Erwachsenen. Alle halfen bei der Betreuung des Babys mit. Später – da war unser zweiter Sohn schon auf der Welt – gründeten wir eine Wohngenossenschaft mit anderen Eltern, weil wir wollten, dass unsere Kinder mit mehreren Bezugspersonen aufwachsen.

Eine Kinderkrippe war kein Thema? 
Doch, beide Söhne besuchten die Kita der ETH Zürich. Aber erst mit zwei Jahren, das war das Mindestalter.

 Eine Mutter, die arbeitet und forscht – das war Ende der 1970er eher unüblich, oder? 
Absolut. Als ich einmal mit meinem jüngeren Sohn in der Babytrage unterwegs war, traf ich eine Frau aus dem Quartier: «Jö, so herzig», sagte sie, «ich wusste doch, dass du keine Rabenmutter bist, die ihre Kinder weggibt.» Was sie nicht wusste: Mein älterer Sohn war gerade in der Kinderkrippe. Damals betreuten gut ausgebildete Frauen ihre Kinder selbst – oder sie engagierten eine Nanny. Kitas waren hauptsächlich als Notbehelf für Mütter gedacht, die arbeiten mussten. Das ist heute anders: Kita-Betreuung ist normal, auch in ländlichen Regionen. Und auch die Erwerbstätigkeit der Mütter hat zugenommen.

Allerdings arbeiten die meisten Mütter – im Gegensatz zu den Vätern – nur Teilzeit. Warum? 
Weil die Vereinbarkeit von Arbeit und Familie noch immer als Frauensache abgehandelt wird. Seit ich Kinder habe, werde ich gefragt: Wie organisierst du dich? Wie schaffst du das? Hast du schon Guetsli gebacken? Mein Mann musste nie solche Fragen beantworten. In der Politik ist es dasselbe: Wenn es um Vereinbarkeit geht, liegt das Augenmerk auf den Frauen. Aktuellstes Beispiel ist die parlamentarische Initiative, wonach der Bund in Zukunft bis zu 20 Prozent der Kita-Kosten übernehmen soll.

Sie hat die Diskussion entfacht, ob billigere Kitas tatsächlich dazu führen, dass Frauen mehr arbeiten – oder eben nicht.
Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich unterstütze diese Anschubfinanzierung zu 100 Prozent. Heute fressen Kita-Kosten unter Umständen einen beträchtlichen Teil des Zweiteinkommens weg. Aber wenn wir über Massnahmen zur Vereinbarkeit sprechen, dann betrifft das die ganze Gesellschaft, nicht nur die Frauen. Wir müssen uns fragen: Welche Infrastruktur braucht es, damit man Kinder haben und gleichzeitig erwerbstätig sein kann, unabhängig vom Geschlecht? Wie schaffen wir diesen Service public? Überspitzt gesagt: Kitas müssen so bezahlbar sein wie das Trambillett. Aber dies setzt voraus, dass wir die Kinderbetreuung nicht mehr nur als Privatsache behandeln. 

Elisabeth Joris, Historikerin fotografiert am 27. Februar 2023 bei ihr zu Hause in Zürich. Elisabeth Joris, Historikerin und Pionierin der Schweizer Frauenrechtsbewegung fotografiert am 27. Februar 2023 bei ihr zu Hause in Zürich.  

«Ein Leben in der Kleinfamilie wäre für mich nicht infrage gekommen»: Joris in einem Kunterbunt aus Büchern und Spielsachen.

Corinne Glanzmann

Das sehen nicht alle so. SVP-Nationalrätin Nadja Umbricht-Pieren etwa sagte kürzlich in der «NZZ am Sonntag: «Es ist nicht die Aufgabe des Bundes, alles zu bezahlen und vorzuschreiben.» 
Und was ist ihre Lösung? Eine Nanny!

Was spricht dagegen? 
Eine Nanny kann im Einzelfall eine Lösung sein. Aber 90 Prozent der Eltern können sich keine Nanny leisten. Ausserdem hat der Fachkräftemangel auch die Kinderbetreuung erfasst. Da ist es doch absurd, wenn Eltern individuell Nannys für ihre Kinder beschäftigen. Kinder sollten in einem gemeinschaftlichen Rahmen betreut werden, in dem soziale Interaktionen automatisch stattfinden.

Wen sehen Sie nun in der Pflicht? 
Allen voran die Politik und die Wirtschaft. Neben der Anschubfinanzierung braucht es für werdende Eltern einen gesetzlichen Anspruch auf Teilzeit, unabhängig vom Geschlecht. Wissen Sie, was mich traurig macht? Als mein Mann und ich 30 waren, mussten wir uns ein Teilzeitpensum hart erkämpfen. Heute sind wir 77 und stellen fest, dass unsere Söhne und ihre Partnerinnen vor der gleichen Herausforderung stehen. Besonders Väter, die weniger arbeiten möchten, müssen um jedes Prozent Reduktion kämpfen.

… und werden gefragt, ob ihre Ambitionen denn nicht gross genug seien. 
Diese Frage sollte verboten sein! Vielmehr müssen werdende Väter gefragt werden: Wie werden Sie sich als Familie organisieren? Das würde bedeuten: Die Wirtschaft interessiert sich für den Arbeitnehmer als Ganzes und passt die Abläufe der Kinderbetreuung an. Wie gesagt: Vereinbarkeit ist keine Privatsache!

Ein Grund, warum vor allem Mütter oft Teilzeit arbeiten, ist auch die Tatsache, dass sie noch immer weniger verdienen als Männer. Was tun?
Neben der Umsetzung der alten Forderung «Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit» geht es auch um die grundsätzliche Neubewertung von Arbeit. Denn: Alle weiblich konnotierten Tätigkeiten sind tendenziell schlechter bezahlt als männlich konnotierte, vorab im Finanzbereich.

Sie betreuen die Kinder Ihrer beiden Söhne an je einem Tag pro Woche. Wegen der finanziellen Entlastung?
Keine Frage, sie sparen damit Tausende Franken. Aber wir machen das nicht nur deswegen. Auch der Austausch mit unseren Enkelkindern ist uns wichtig. Wobei ich betonen muss: Grosseltern gehen damit eine grosse Verpflichtung ein.

Sollten Grosseltern für regelmässiges Hüten Geld erhalten? 
Diese Frage ist Teil einer grösseren Frage: Wie gehen wir als Gesellschaft mit unbezahlter Arbeit um? Es ist zentral, statistisch zu erfassen, wie viel volkswirtschaftlicher Wert damit geschaffen wird – um diese Leistung bewusst zu machen.

Aber es gibt auch Grossmütter, die sagen: «Ich mache das einfach gern.»
Meine Enkelin schrieb mir kürzlich einen wunderschönen Brief zum Geburtstag: «Du bist die beste aller Grossmütter» – das ging runter wie Butter. Aber diese Emotionalität, ja diese Liebe kann man eben nicht nur im Privaten erfahren, sondern auch im Berufsleben. Ich habe immer gern gearbeitet. Aber deswegen habe ich die Arbeit doch nicht gratis gemacht. 

Von Michelle Schwarzenbach am 8. März 2023 - 07:00 Uhr