Die Gletschergrotte ist in ein türkisfarbenes Dämmerlicht getaucht. Manchmal schimmert das Gewölbe Grün, dann wieder Blau. Im Schein der Stirnlampe glitzern und funkeln die Wände, als wären sie aus Kristallglas. Sie legen den Blick auf grosse und kleine Steine frei, die im Jahrtausend alten Eis eingeschlossen sind: Der Gletscher hat die Felsbrocken einfach verschluckt.
Eishöhlen sind eine der atemberaubendsten Attraktionen, die die Natur zu bieten hat. Nun hat sich im Engadin wieder eine Grotte aufgetan. Die Kathedrale aus Eis ist rund 30 Meter lang und fünf Meter hoch. Beim Betreten wähnt man sich in einem Science-Fiction, als ob man auf einem fremden Planeten gestrandet ist. Plötzlich spielen Zeit und Ort keine Rolle mehr. Am Eingang lässt man den Alltag hinter sich und betritt eine andere Welt.
Unter den Steigeisen, die uns Halt geben, knarrt das Blankeis. Die Augen sind überfordert. Fasziniert lauschen wir den Geräuschen. Da hinten im Dunkeln rauscht doch ein Bach! Und dann stehen wir plötzlich über dem Gewässer, das als Schmelzwasser unter den Füssen durchfliesst, getrennt durch eine fette Eisschicht. Gespannt wollen wir mehr wissen. Gian Luck leitet die Bergsteigerschule Pontresina und ist der Profi vor Ort.
Wir haben ihn frühmorgens am Bahnhof Morteratsch getroffen, die Schneeschuhe angeschnallt und sind auf dem Trail Richtung Biancograt gelaufen. Ice Age lässt grüssen: Das Thermometer zeigt Minus 28 Grad! Während die ersten Sonnenstrahlen die drei Gipfel des Piz Palü beleuchten, sind unsere Wimpern und Haare mit Raureif überzogen. Was für ein bitterkalter Tag! Der Gletscher liebt die Kälte. Dauerhafte Minustemperaturen halten ihn stabil und sind eine wichtigste Voraussetzung, um die Grotte überhaupt besichtigen zu können.
Ihr Eingang liegt oberhalb der Moräne. Wie sehr sich der sechs Kilometer lange Gigant in den letzen Jahren durch die Klimaerwärmung zurückgezogen hat, ist auf den 20 Infotafeln ersichtlich, die wir auf dem Weg zum Schlund passieren. Vor tausenden von Jahren reichte er bis Pontresina, hatte eine Dicke von 150 Metern. Heute ist nicht mehr viel davon übrig. Wer von der Bergstation Diavolezza die Skiabfahrt nach Morteratsch macht, fährt direkt an der mit Eiszapfen dekorierten Öffnung vorbei. Einfacher erreicht man sie zu Fuss. Die Bergsteigerschule Pontresina bietet geführte Tages-Touren für die ganze Familie an (CHF 190.– pro Person). Der Hinweg dauert zwei Stunden.
Langsam wird das Licht der Stirnlampe schwächer. Die Akkus von Handy und Kamera sind bald leer. Es wird Zeit, die Märchenwelt zu verlassen. Durch die Gletscheröffnung schreiten wir hinaus in die verschneite Landschaft am Fusse des Bernina-Massivs, geblendet vom gleissenden Sonnenlicht. Und dem Wissen, gerade 14'000 Jahre Gletschergeschichte erlebt zu haben.