Mit festem Strich setzt sie den Bogen an. Die Geige erklingt in einem warmen, majestätischen Ton. Mit spielerischer Leichtigkeit bewegen sich die Finger ihrer linken Hand übers Griffbrett – mal mit sanftem Vibrato, dann ungemein schnell und treffsicher. Die reine Melodie, die dabei entsteht, ist voller Leidenschaft und Sehnsucht. Man spürt das Schwärmen, das innere Glühen einer jungen Virtuosin, die dabei ist, eines der anspruchsvollsten Werke der klassischen Musik zu meistern: Mendelssohns Violinkonzert in e-Moll.
Gerade tut sie dies noch im Wohnzimmer ihres Elternhauses in Adliswil zwischen Christbaum und Klavier. Am 23. und 26. Dezember steht sie damit auf der Bühne der Tonhalle Zürich, als Solistin, das ganze Stück auswendig im Kopf, begleitet von den Zürcher Symphonikern. Am 13. Januar 2026 gibt sie zudem in der Kleinen Tonhalle ein Recital.

Eine seltene Beziehung: Liana Tretiakova, Geigenlehrerin an der Zürcher Zakhar Bron School of Music, unterrichtet Sophie Branson seit derem vierten Lebensjahr.
Lucia Hunziker / RingierErhaben, selbstbewusst, souverän – so die Erscheinung von Sophie Branson (19) wenn sie im Konzertsaal die Geige spielt. Still, reflektiert, fast etwas schüchtern wirkt die sympathische Zürcherin, die in Tokio geboren wurde, wenn sie am Küchentisch sitzt und über sich selbst erzählen soll. «Interviewsituationen machen mich noch etwas nervös», sagt sie. Aber wenn das Thema zu Geige und Musik wechselt, öffnet sich ihr Herz. «Die Geige war immer da, soweit ich mich erinnern kann», sagt sie. «Ich weiss nicht einmal mehr, wie alles angefangen hat.»
Mama ist Profigeigerin
Ihre Mutter Inna Khriplovich, eine professionelle Geigerin, die in verschiedenen internationalen Orchestern tätig war, kann weiterhelfen: «Als Zweijährige bekam Sophie eine Spielzeuggeige, und schon bald stellte sich heraus, dass sie Musik liebt», erzählt sie. «Da sie damals noch zu jung für Geigenunterricht war, begann sie mit Klavier. Aber mit vier Jahren wollte sie unbedingt Geige lernen.»

Sophie und ihre Familie: «Bonus-Dad» Schlomo Aschkenasy (60) Bruder Benjamin (16) und Mutter Inna Khriplovich (49) eine Profi-Geigerin.
Lucia Hunziker / RingierInna hat eine Freundin aus ihrer russischen Heimat Nowosibirsk, Geigenlehrerin an der Zakhar Bron School of Music in Zürich, und schickt die kleine Sophie zu ihr in den Unterricht. «Es war von Anfang an klar, dass ich Sophie nicht selbst unterrichte», sagt Inna. «Denn Sophie ist sehr eigensinnig und braucht für die Musik eine Autorität ausserhalb der Familie.»
Klassische Teenagerjahre
Sie weiss: Das Erlernen der Geige ist oft gepaart mit Mühen und Konflikten. «Es gab eine Phase, in der Sophie meine Nähe beim Üben entschieden zurückwies. Dann dachte ich manchmal: Das wars, jetzt schmeisst sie hin», so Inna. «Doch am nächsten Tag stand sie wieder vor dem Notenpult. Da habe ich gemerkt, wie gross ihr eigener Ehrgeiz, ihre Ausdauer und Leidenschaft sind, dieses Instrument wirklich bis zur Perfektion zu beherrschen.»
Sophie wird dafür mit spektakulären Erfolgen belohnt: Mit acht Jahren gewinnt sie ihren ersten internationalen Wettbewerb. Heute fragen sie auch internationale Ensembles für Auftritte als Solistin oder Kammermusikerin an – als Schweizer «Geigen-Wunderkind».

Winnie the Pooh leistet Sophie in ihrem Zimmer Gesellschaft, wenn sie Künstlerbiografien liest und bis zu sechs Stunden am Tag übt.
Lucia Hunziker / RingierWinnie the Pooh, der kleine Plüschbär auf Sophies Bettkante, weiss alles. Seit 19 Jahren ist er ihr Begleiter, kennt ihre Freuden, aber auch ihre Tiefs. Geduldig hört er zu, wenn sie bis zu sechs Stunden am Tag ihr anspruchsvolles Repertoire übt. Er leistet ihr Gesellschaft, wenn sie Künstlerbiografien liest, um mehr zu erfahren über die Hintergründe der Werke, die sie aufführt. Letztes Jahr stand Brahms im Fokus, weil sie sein berühmtes D-Dur-Violinkonzert mit Bravour aufführte. Dieses Jahr sind es Mendelssohn und Prokofjew, die sie beschäftigen. «Faszinierend finde ich, immer mehr zu verstehen, dass sich die Komponisten gekannt und auch ausgetauscht haben und dass es in ihren Werken viele Parallelen zu entdecken gibt», sagt Sophie.
Sie hat dabei nicht das Gefühl, sich in der Vergangenheit zu bewegen. «Musik ist zeitlos», sagt sie. «Wir erleben dieselben Emotionen wie die Menschen damals, als diese Werke entstanden sind.» Daher will sie klassische Musik auch ihren Altersgenossen näherbringen. Sophie: «Wenn ich Freunde zu einem Konzert einlade, höre ich oft: ‹Klassische Musik ist nicht so mein Ding.› Wenn sie aber kommen, gefällt es ihnen sehr!»
Gefühl der Zusammengehörigkeit
Die junge Weltklassegeigerin befasst sich auch mit dem Hier und Jetzt: Als Abwechslung zur Klassik gönnt sie sich hie und da die Riffs der britischen Alternative-Rockband Arctic Monkeys. Dazu bereitet sie sich auf ihr Bachelorstudium vor. «Mein Traum ist, es an die Royal Academy in London zu schaffen», sagt sie. Sie will auf eigenen Beinen stehen, Erfahrungen sammeln, mit neuen Menschen neue musikalische Welten erkunden. «Das Zusammenspiel mit Dirigenten und anderen Musikern auf der Bühne – dieses Gefühl der Zusammengehörigkeit – gibt mir nur die Musik», sagt Sophie. «Ein Abenteuer, das mir die Geige ermöglicht. Ich bin bereit!»
