Die Bilder der britischen Eltern mit ihren zwei Kindern auf dem Piz Badile treiben Laien den kalten Schweiss auf die Stirn: Am 25. Juli haben Jackson, 3, und seine Schwester Freya, 7, gemeinsam mit ihrem Vater, dem Profialpinisten Leo Houlding, und Mutter Jessica den 3308 Meter hohen Bündner Berg bestiegen.
«Ich kenne Leo persönlich. Er ist ein äusserst erfahrener Bergsteiger und hat diese Tour sicher sehr sorgfältig geplant. Trotzdem: Ich hätte das mit meinen Kindern nicht riskiert. Ich werde auch den Eindruck nicht los, dass es hier in erster Linie um die mediale Aufmerksamkeit geht. Die Kinder für seine Eigeninteressen zu vermarkten, finde ich sehr heikel», sagt Stephan Sigrist, 38.
Der Profialpinist ist seinem bekannten Berufskollegen schon mehrmals bei verschiedenen Treffen in Patagonien sowie auf Filmfestivals, wo der Brite bei Abenteuer-Dokus und Serien mitwirkt, begegnet.
Den Piz Badile hat der in Meikirch aufgewachsene Berner auch schon bestiegen. Erfahrene Alpinisten würden die Tour mit je zwei Stunden Zu- und Abstieg und fünf Stunden reiner Kletterzeit über die Nordkante bewältigen. «Es ist keine besonders schwierige oder gefährliche Route. Es gibt ein paar ausgesetzte Stellen an der Nordkante, der Grat ist aber über weite Strecken ziemlich breit», sagt Siegrist.
Die Leistung der siebenjährigen Freya bleibt allerdings aussergewöhnlich und beeindruckend. «Die Schwierigkeitsgrade beziehen sich auf erwachsene Personen. Für Kinder sind diese oft höher wegen dem Abstand der Felsstrukturen», nennt Siegrist eine von vielen Herausforderungen.
An flachen Stellen auf den Platten etwa sei es aber kein Problem. Dass Houlding die Tour mit seinen Kindern in vier Etappen aufgeteilt habe, sei auf jeden Fall sinnvoll.
Altersgerechtes Bergsteigen sieht beim zweifachen Vater dennoch anders aus: «Mein jüngster Sohn – er ist neun Jahre alt – wollte in diesem Jahr unbedingt auf den Mönch. Gut, habe ich zu ihm gesagt, wir machen das, aber in drei Etappen mit je einem Jahr Abstand.»
Der Profialpinist bleibt daher skeptisch, was die Motivation von Houldings Kindern anbelangt: «Ich bezweifle, dass insbesondere der Dreijährige diese Unternehmen so toll fand. Hand aufs Herz: Kleine Kinder spielen am liebsten mit anderen Kindern und erleben mit ihren gleichaltrigen Freunden Abenteuer – nicht mit ihren Eltern.»
Er verstehe zwar, dass man als Vater seine Leidenschaft gern teilen wolle, doch man sollte es nicht forcieren. «Sein Kind für etwas zu begeistern ist das eine und finde ich grundsätzlich sehr gut. Die Gefahr bei solchen Sachen ist aber gross, es aus Eigeninteresse zu überfordern. Es ist eine schmale Gratwanderung.»
Hinzu kommt bei einer hochalpinen Besteigung das Restrisiko einer Verletzung. «Solange ein Kind nicht zumindest teilweise sein Tun einschätzen kann und es würde etwas Schlimmes passieren – so etwas könnte ich mir niemals verzeihen», sagt Siegrist.
Als Spitzensportler leben auch Profialpinisten von Sponsoren. Die Sozialen Medien spielen dabei eine immer wichtigere Rolle.
Wirft man einen Blick auf Leo Houldings Facebookseite, sieht man, dass der Brite für seine Beiträge normalerweise ein paar hundert Klicks erhält. Bei der Piz-Badile-Aktion mit seinen Kindern dagegen schossen die Likes auf über 4000, es hagelte knapp 500 Kommentare und der Beitrag wurde fast 900 Mal geteilt.
«Klar, möchte man als Profialpinist möglichst attraktive Aufträge realisieren. Die Frage ist, wie weit man dafür gehen will. Es auf Kosten der Kinder zu tun, stimmt für mich persönlich nicht», sagt Siegrist, der in der Schweiz auch als Bergführer tätig ist.
Klar sei zudem, dass die Sozialen Medien uns in der Regel die Sonnenseite vorgaukeln. «Ob eines der Kinder vor dem Fotografieren gerade eine Krise hatte, sehen wir nicht und wird auch nicht abgebildet», sagt Siegrist.
Besonders Mühe bereitet dem Profialpinisten zudem die Tendenz zu Liveübertragungen von Besteigungen über die Sozialen Medien. Der eigentliche Fokus eines Projektes und die ganze Schönheit der Natur und des Kletterns werden zweitrangig.
«Hochkonzentriert unterwegs nach Oben sein. Vollständig im Jetzt verankert. Eins werden mit Körper, Geist und Atem. All das fasziniert mich an meinem Beruf. Wenn ich mich ständig selbst dabei filmen und inszenieren sollte, ist das nicht mehr möglich.»