Aufgeregt zeigt Valerio im Kinderzimmer in Zürich Höngg auf ein Buch. Dann dreht sich der Einjährige zu seiner Mutter und brabbelt vergnügt. «Ja gäll, Schätzi, das willsch aaluege», sagt Ramona Fattini (36). Sie trägt ihn ins weisse Tipi-Zelt, setzt sich zu ihm und schlägt sein Lieblingsbuch auf: «Der Räuber Hotzenplotz». «Er liebt es. Obwohl fast keine Bilder drin sind und er die Geschichte noch gar nicht versteht», sagt sie und lacht.

Lesestunde im Tipi: Neugierig betrachtet Valerio mit Mama Ramona sein Lieblingsbuch «Der Räuber Hotzenplotz».
Geri BornDer bärtige Mann mit dem grossen Hut spielt auch in Ramonas Berufsleben eine Hauptrolle. Nach «Frau Holle» ist «Der Räuber Hotzenplotz» das zweite Stück, das sie als neue Leiterin der Zürcher Märchenbühne am Theater Hechtplatz verantwortet. Im Juli 2024 hat sie die Bühne von Erich Vock und Hubert Spiess übernommen. «Riesige Fussstapfen», weiss sie. «Ich war meganervös und wollte ihr Niveau unbedingt halten.»
Schon ihre erste Saison lief gut. Auch die aktuellen Vorstellungen vom «Hotzenplotz» und dem «Night-Märchen», der Version für Erwachsene, sind bis Ende Dezember fast ausverkauft. Die zweite Saison ab März 2026 findet wegen Umbauarbeiten am Hechtplatz-Theater im Bernhard Theater statt. «Ich bin stolz, dass wir den Leuten ein schönes Theatererlebnis bieten können», sagt die Zürcherin mit italienischen Wurzeln. «Kultur ist so wichtig – man kann für einen Moment vergessen, was auf der Welt passiert.»

Die «Märli»-Chefin stand zuvor mit ihren Vorgängern Erich Vock (r.) und Hubert Spiess (l.) auf der Bühne. Hier im Stück «Schneewittchen».
PAT WETTSTEIN for PHOTOPRODUCTIONZweifel bei der neuen Rolle
Dass sie die Märchenbühne einmal leiten würde, hätte Fattini nie gedacht. Zwar unterstützte sie Vock und Spiess ab 2015 hinter den Kulissen, spielte ab 2016 selbst auf der Bühne. «Aber eine Leitung? Ich dachte wirklich, das kann ich nicht.» Erst als das Paar auf sie zukam, überlegte sie sich diesen Schritt. «Ich merkte, wie gern ich organisiere. Und Märchen waren schon als Kind mein Ding. Mein Sackgeld ging immer für Disney-Filme drauf.»
Mit der neuen Aufgabe kam auch mehr Verantwortung. «Ich bin nicht nur auf der Bühne, sondern fürs Ganze zuständig», sagt Fattini, die im Hotzenplotz-Stück den Kasper spielt. «Verträge, Jobs, Budgets – da steckt stets ein Risiko drin. Aber ich mache es megagern. Und ich habe ein tolles Team.»
Dazu gehört auch ihr Mann, Pirmin Huber (38). Der Kontrabassist und Komponist produziert die Musik der Märchenbühne und tritt mit Ramona in ihrer Konzertreihe «ArtLändler» auf. Kennengelernt haben sich die beiden 2020 während Corona auf Facebook. Pirmin: «Wir hatten gemeinsame Bekannte – und ich hab ihr einfach mal eine Freundschaftsanfrage geschickt.» Ramona lacht: «Als ich sein Profilbild sah, dachte ich: Das ist ein Schöner!»
Ihr erstes Treffen wäre fast geplatzt. Obwohl sie davor lange hin- und hergeschrieben hatten. «An dem Abend hatten wir beide keine Lust und waren kurz davor abzusagen», erinnert sich Fattini, die mit Pirmin und der gemeinsamen Firma fattinihuber entertainment ab März 2026 ihre erste Abendproduktion «Traumhochzeit» realisiert. «Zum Glück haben wirs trotzdem gemacht!» Im März 2024 heirateten sie, einen Monat später kam Valerio zur Welt. Ramona: «Er ist ein megafröhlicher Bub, der uns den Start ins Elternsein leicht gemacht hat.» Als sie das sagt, tanzt Valerio ausgelassen zu Papis Musik durch die Stube, die aus den Lautsprechern eines Laptops schallt.
Eine halbe Stunde später sitzen die drei im Auto auf dem Weg nach Wiedikon. Hier steht der Proberaum, wo Pirmin Musik komponiert und Ramona mit dem Ensemble probt, bevor das Stück auf die Bühne wechselt. Valerio steuert grad aufs Schlagzeug zu und trommelt eifrig los. Ramona lacht: «Er hat wohl unsere Bühnengene geerbt.»
Zwischen Chaos und Zweisamkeit
Wenn Ramona und Pirmin gemeinsam arbeiten, tun sie das entweder im Proberaum, im Büro oder zu Hause am Esstisch, sobald Valerio schläft. «Dann besprechen wir etwa, welche Musik zu welcher Szene passt», erklärt sie. Meinungsverschiedenheiten gebe es kaum – und wenn, dann eher im Haushalt. Pirmin sei «es bitzli en Chaot». Er kontert: «Ich brauche halt kreatives Chaos. Das inspiriert.»

Im Proberaum in Wiedikon übt Ramona ihre Stücke, Pirmin komponiert die Musik dazu. Valerio interessiert sich fürs Schlagzeug.
Geri BornDer Alltag mit Kind und zwei Bühnenberufen verlangt viel Planung. «Unsere Wochen sehen nie gleich aus», erklärt Pirmin. Daher sei auch die Kita keine Option. In den Probenphasen im Herbst übernimmt er mehr die Betreuung, im Frühling und Sommer dagegen sie. Unterstützung erhalten sie von Ramonas Eltern, die in Pfungen ZH leben. «Sie lieben es, wenn sie auf den Kleinen aufpassen dürfen», sagt sie. Und was machen sie, damit ihr Paarleben nicht zu kurz kommt? Ramona lächelt und verrät: «Wir blockieren uns sogenannte Herzli-Tage im Kalender. Dann unternehmen wir bewusst etwas zu zweit oder als Familie.»
Es ist Mittag geworden. In zwei Stunden steht Ramona Fattini wieder als Kasper auf der Märchenbühne. «Ich freue mich auf jede Vorstellung. Wenn die Kleinen laut lachen, geht mir das Herz auf», schwärmt sie. Und wenn Valerio erst einmal im Publikum sitzen wird! Noch entdeckt er das Märchen aber auf seine eigene Weise – mit Mama daheim im Tipi.
