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So werden Geschwister von krebskranken Kindern gestärkt

300 Kinder und Jugendliche in der Schweiz erhalten jährlich die Diagnose Krebs. Diese stellt von einem Moment auf den anderen das Leben der ganzen Familie auf den Kopf – und in der Sorge um das kranke Kind müssen gesunde Geschwister oft zurückstecken. Die neue Sensibilisierungskampagne von Kinderkrebs Schweiz zeigt auf, wie Geschwisterkinder gut durch die belastende Zeit begleitet werden können.

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Kind, Krankenhaus, Geschwister

Geschwister von krebskranken Kinder leiden oft still.

Getty Images/Rubberball

Plötzlich ist nichts mehr, wie es mal war: Erhält ein Kind die Diagnose Krebs, wird das Familienleben gehörig durchgeschüttelt. Oft brauchen Eltern ihre ganze Energie, um dem kranken Kind beizustehen. Doch nicht nur die kleinen Patienten leiden. Gesunde Geschwister machen sich genauso Sorgen wie ihre Eltern. Die Kampagne «Kinderkrebs: Im Schatten von kranken Geschwistern» von Kinderkrebs Schweiz macht auf ihre Bedürfnisse aufmerksam.

Andrea Kurzo, Fachpsychologin für Psychotherapie und spezialisiert auf Kinder, Jugendliche und Familien am Kinderspital Bern, erklärt im Interview, worauf man im Umgang mit Geschwisterkindern achten sollte, damit sie die herausfordernde Zeit möglichst gut meistern können.

Frau Kurzo, wie erklärt man einem Kind, dass seine Schwester oder sein Bruder Krebs hat?
Möglichst transparent. Es ist wichtig, dem Patienten und den Geschwistern gegenüber ehrlich zu sein. Wir ermuntern die Eltern, die korrekten Begriffe für die Krankheit zu wählen. Es gibt allerdings Familien, die möchten die Worte «Krebs» oder «Tumor» vor den Kindern nicht aussprechen. Das muss respektiert werden. In dem Fall können die Eltern statt von einem Tumor beispielsweise von einem Knoten oder einem Stein im Bauch sprechen. Wir weisen die Eltern jedoch darauf hin, dass andere Kinder den Geschwistern plötzlich sagen könnten: «Dein Bruder hat Krebs.» Haben sie das zuvor nie so gehört, kann sie diese Information überfordern.

Sollten die Kinder von einem Arzt erfahren, dass ihr Geschwister krank ist?
Nicht unbedingt. Fühlen sich die Eltern dazu fähig, ist es gut, wenn sie ihren gesunden Kindern die Diagnose selbst erklären. Wir geben ihnen dazu Bilderbücher mit und zeigen auf, wie sie mit ihren Kindern altersgerecht über die Krankheit sprechen können. 

Welche Informationen sind für die Geschwisterkinder besonders wichtig?
Sie sollen erfahren, dass ihr Bruder oder ihre Schwester eine schlimme Krankheit hat, deshalb lange im Spital bleiben muss und auch später immer wieder Arzttermine haben wird. Wichtig ist auch die Information, dass Krebs nicht ansteckend ist und niemand etwas falsch gemacht hat. Also, dass das kranke Kind nicht im Spital ist, weil es in der Kälte keine Jacke getragen hat und auch nicht, weil die Geschwister gemeinsam Blödsinn gemacht haben.

Andrea Kurzo

Andrea Kurzo ist Fachpsychologin für Psychotherapie und spezialisiert auf Kinder, Jugendliche und Familien. Sie arbeitet am Kinderspital Bern.

ZVG

Dürfen Eltern zeigen, dass sie sich ums kranke Kind sorgen?
Ja. Sie müssen nicht versuchen, ihre Tränen vor den Kindern zu unterdrücken. Aber sie sollten erklären, weshalb sie weinen. Viele Eltern befürchten, sie würden die Kinder mit ihrer Traurigkeit anstecken. Kinder spüren aber sowieso, wenn etwas nicht in Ordnung ist. Ihnen etwas vorzuspielen, ist keine Lösung. Wichtig ist bloss, dass man stets hoffnungsvoll bleibt.

Soll man die Geschwisterkinder ins Spital mitnehmen?
Das ist momentan wegen Corona ein wenig schwierig, im Normalfall raten wir aber dazu. Besonders Kinder zwischen vier und sieben Jahren, die noch in der magischen Phase sind – also in deren Vorstellung alles möglich ist –, brauchen einen Abgleich ihrer Fantasie mit der Realität. Sie sollen sehen, dass ihr Geschwister im Grunde noch der oder die Gleiche ist. Auch ältere Kinder stellen sich die Intensivstation meist bedrückend und hektisch vor. Dieses Bild kann durch einen Besuch korrigiert werden.

Und was, wenn die Geschwisterkinder partout nicht ins Spital möchten?
Dann muss man das akzeptieren. Dasselbe gilt, wenn ein gesundes Kind nicht über die Krankheit seines Geschwisters sprechen will.

Ist das nicht besorgniserregend?
Nein, das ist die individuelle Bewältigungsstrategie des Kindes. Da braucht man keinen Druck aufzusetzen, aber zu signalisieren, dass das Kind jederzeit Fragen stellen darf. Ist es hingegen so, dass sich das Kind nicht nur zurückzieht, sondern auch schulische Probleme entwickelt, nicht mehr isst, kaum schläft oder aggressiv wird, sollte man sich an eine Fachperson wenden. Meist sind wir Psychologinnen und Psychologen bereits durch die Krankheit des Geschwisters involviert. Dadurch wird in der Regel schnell gehandelt.

Inwiefern sind Sie involviert?
In den zertifizierten onkologischen Zentren ist die psychosoziale Betreuung integriert. Das heisst, die Kinder werden von einem Team aus Ärztinnen und Ärzten, Pflegenden, Sozialarbeitenden, Musiktherapeutinnen und -therapeuten, Lehrpersonen aus der Patientenschule und uns Psychologinnen und Psychologen begleitet. Wir sind von Anfang an dabei, bauen eine Beziehung auf und fragen auch nach den Geschwistern und danach, wie diese in der Ausnahmesituation betreut werden.

Kinderkrebs Schweiz

Die neue Sensibilisierungskampagne von Kinderkrebs Schweiz stellt Geschwister von krebskranken Kindern in den Fokus.

ZVG

Oft fehlt den Eltern die Zeit und Kraft, sich umfassend um ihre gesunden Kinder zu kümmern.
Genau, und das ist nicht nur für die Kinder selbst schwierig, sondern auch für die Eltern. Es zerreisst sie fast, wenn sie realisieren, dass sie momentan nicht für all ihre Kinder im selben Ausmass da sein können. In einer solchen Situation ist es jedoch schlicht nicht möglich. Eltern müssen akzeptieren, dass sie sich nicht zweiteilen können.

Wie gestaltet man die schwierige Situation für die gesunden Kinder dennoch angenehmer?
Indem man auf Qualität anstatt auf Quantität setzt und die rar gewordene Zeit gut nutzt. Dass man etwa gemeinsam einen Adventskalender bastelt oder mal nur die Mutter mit der Tochter für zwei Stunden shoppen geht. Zudem ist es wichtig, dass die Kinder ihren Alltag fortführen und ihre Hobbys ausüben können. Damit das möglich ist, müssen die Eltern bereit sein, Hilfe von Freunden und Verwandten anzunehmen, die bei der Betreuung einspringen. Schön für die Kinder ist auch, wenn sie mit dem Gotti oder Götti etwas Cooles unternehmen dürfen. Weiter ist es wichtig, die Kinder auf Notfälle vorzubereiten.

Was heisst das?
Leidet ein Kind an Krebs, ist es möglich, dass die Eltern auch mal nachts ins Spital gerufen werden. Diese Situation sollten sie vorgängig mit den gesunden Kindern besprechen und vereinbaren, dass sie geweckt würden, falls es zu einem Notfall kommt. Oder man verspricht, dass die Lehrperson informiert würde, sollte tagsüber etwas passiert. Auf diese Weise nimmt man dem Kind die Angst vor dem Unvorhersehbaren.

Kann ein Geschwisterkind dank der richtigen Begleitung auch gestärkt aus der belastenden Situation kommen?
Ja, genauso, wie aus jeder anderen Krise auch. Durch die Krankheit der Schwester oder des Bruders lernt das gesunde Kind früher, mit bedrohlichen Situationen und starken Emotionen umzugehen. Zudem muss es schneller selbständig werden. Das Kind durchläuft also im jungen Alter einen Reifeprozess, aus dem es gestärkt hervorgehen kann. 

Von fei am 26. November 2021 - 17:55 Uhr