Nicht ganz umsonst wurde die Autonomiephase früher «Trotzphase» genannt. Entdecken die lieben Kleinen, dass sie einen eigenen Willen haben, kann es hie und da ganz schön ruppig werden.
So passiert es schnell einmal, dass kleine Kinder andere Kinder schlagen, beissen, schubsen. Kommt es richtig dicke, kann die Phase ziemlich lange dauern. Dabei kann sich die kindliche Aggression auch gegen Eltern und/oder Geschwisterkinder zeigen.
Dino Demarchi von Pro Juventute, erklärt im Interview mit schweizer-illustrierte.ch alles, das Eltern wissen sollten.
Dino Demarchi, gehört das Hauen von Eltern, Geschwister- und anderen Kindern zu einer normalen Entwicklung dazu?
Eine Phase des aggressiven Verhaltens mit Hauen und Beissen ist normal in der Entwicklung. Diese Wutanfälle gehören zur sogenannten Autonomiephase. In dieser Zeit beginnen Kinder zu merken, dass sie eigenständige Personen sind. Sie wollen Dinge selbst bestimmen und stossen auch oft auf Grenzen – zum Beispiel, wenn sie etwas nicht dürfen, etwas nicht schaffen oder zu etwas gezwungen werden, das sie nicht wollen. Das führt zu Frust und kann sich in heftigen Gefühlsausbrüchen äussern.
Warum hauen vor allem junge Kinder wild um sich?
Kleinkinder werden von ihren Gefühlen oft überrollt, weil sie noch nicht gelernt haben, sie zu regulieren. Besonders in Momenten der Frustration erleben sie starke Emotionen, die sie nicht alleine bewältigen können. Und ihre Empathiefähigkeit ist noch nicht vollständig entwickelt. Sie verstehen also oft nicht, dass sie anderen damit wehtun. Sie brauchen die Unterstützung von Erwachsenen, um zu verstehen, was sie fühlen, und um zu lernen, ihre Gefühle anders auszudrücken. Mit der Zeit, wenn ihre Sprach- und Sozialfähigkeiten besser werden, nimmt dieses aggressive Verhalten meistens ab.
Hat man als Eltern etwas falsch gemacht, wenn Kinder schlagen?
Dieses Verhalten gehört zur Autonomiephase dazu. Wichtig ist nicht, ob ein Kind haut, sondern wie die Erwachsenen darauf reagieren. In solchen Momenten ist es wichtig, dass Eltern die Gefühle ihres Kindes ernst nehmen und diese validieren. Durch aktives Zuhören und einfühlsame Reaktionen können sie dem Kind helfen, sich schneller zu beruhigen. Wenn ein Kind merkt, dass seine Emotionen verstanden werden, lernt es mit der Zeit, besser damit umzugehen. Es hilft, ruhig zu bleiben und die Situation realistisch einzuschätzen. Für Erwachsene wirken solche Ausbrüche manchmal unerwartet, aber sie haben meist klare Gründe: Kinder tun sich oft schwer damit, sich an Neues zu gewöhnen, oder sie überschätzen ihre eigenen Fähigkeiten. Wenn dann etwas nicht klappt, kann das grosse Frustration auslösen – und sich in körperlichen Reaktionen wie Hauen zeigen.
Wie reagiert man richtig, wenn das Kind in blinder Wut auf einen einhaut?
Am wichtigsten ist es, ruhig und konsequent zu bleiben. Eltern sollten die Gefühle des Kindes benennen und ihm klar signalisieren, dass körperliche Aggression nicht in Ordnung ist: «Ich sehe, dass du wütend bist. Wütend zu sein ist okay, aber schlagen ist nicht in Ordnung.» Dadurch fühlt sich das Kind verstanden und kann seine Emotionen besser einordnen. Gleichzeitig sollten Eltern versuchen, selbst gelassen zu bleiben, denn wenn sie selbst wütend reagieren, kann die Situation noch mehr eskalieren. Studien zeigen, dass Kinder besser lernen, mit ihren Gefühlen umzugehen, wenn Eltern ruhig bleiben und ihnen Orientierung geben. Es ist auch wichtig, Kindern zu vermitteln, dass Wut ein normales Gefühl ist. Sie brauchen Alternativen, um damit umzugehen – zum Beispiel in ein Kissen zu hauen oder einen Gegenstand zu werfen, der nichts kaputt macht. Solche Strategien müssen immer wieder geübt werden, damit das Kind sie in der nächsten Wutsituation auch anwenden kann. Aber Achtung: Nicht jedes Kind braucht in diesen Momenten dasselbe. Manche Kinder suchen Nähe, andere möchten lieber alleine sein – beides sollte respektiert werden. Auf alle Fälle sollte man in unmittelbarer Nähe verfügbar bleiben. Falls man kurz den Raum verlassen muss, sollte man dem Kind sagen, dass man bald wiederkommt, und alles wegräumen, woran das Kind sich unter Umständen verletzten könnte. Wenn sich das Kind beruhigt hat, ist ein guter Moment, um es wieder in dem Arm zu nehmen, Trost zu spenden und ihm zu zeigen, dass alles wieder in Ordnung ist. Es hilft, danach über die Emotionen zu sprechen. So versteht das Kind, dass Wut zwar vorkommt, aber dass es trotzdem geliebt wird – egal, wie stark die Gefühle waren.
Dino Demarchi ist Pressesprecher bei Pro Juventute.
ZVGWie reagiert man am besten, wenn das eigene Kind andere Kinder schlägt?
Konflikte sind ganz normal und gehören zum Zusammenleben dazu. Aber der richtige Umgang damit muss erst gelernt werden. Wenn ein Kind haut oder beisst, ist es wichtig, ruhig und klar einzugreifen. Eltern sollten mit Nachdruck, aber ruhig sagen, dass dieses Verhalten nicht in Ordnung ist. Es hilft, das Kind zu sich zu nehmen, seine Gefühle zu benennen, Verständnis zu signalisieren und gleichzeitig Grenzen aufzuzeigen: «Ich sehe, dass du wütend bist, aber beissen ist nicht erlaubt.» Und Kinder lernen durch Vorbilder – deshalb sollten Eltern selbst einen respektvollen Umgang vorleben. Genauso wichtig ist es, die Ursache für das aggressive Verhalten zu verstehen. War das Kind frustriert, eifersüchtig oder fühlte es sich ungerecht behandelt? Vielleicht war es unsicher oder wollte Aufmerksamkeit? Eltern können ihr Kind fragen, wie es sich in der Situation gefühlt hat, und erklären, welche Reaktionen angemessen sind und welche nicht. Manchmal hilft es auch, dem Kind kurz eine Pause zu geben, um sich zu beruhigen. Es sollte jedoch lernen, dass es mit Hauen oder Beissen nichts erreicht. Durch geduldige Begleitung und klare Grenzen verstehen Kinder mit der Zeit, wie sie Konflikte friedlicher lösen können.
Soll man ein Kind, das gehauen hat, bestrafen und wenn ja, wie?
Durch Bestrafung lernt es nicht, warum sein Verhalten nicht angemessen war oder wie es seine Wut anders ausdrücken kann. Besonders wenn ein Kind von seinen Gefühlen überrollt wird, braucht es eher Unterstützung statt Strafe. Der Fokus sollte darauf liegen, dem Kind zu helfen, seine Gefühle anders auszudrücken. Zum Beispiel kann man gemeinsam altersgerechte Alternativen überlegen, etwa: «Du bist wütend, das ist okay. Aber statt zu hauen, kannst du in ein Kissen schlagen oder mir sagen, was dich stört.» Man kann auch mit dem Kind darüber reden, was es jetzt tun könnte, damit sich das andere Kind wieder wohl fühlt. Kinder lernen unter anderem durch Nachahmung und Wiederholung. Wenn die Eltern immer wieder ruhig und respektvoll reagieren, gibt das dem Kind ein Vorbild für den richtigen Umgang mit Gefühlen.
Wie können sich Eltern regulieren, wenn sie selber vor Wut an ihre Grenzen kommen?
Zunächst ist es wichtig, sich bewusst zu machen, dass das aggressive Verhalten des Kindes kein persönlicher Angriff ist. Kinder handeln in solchen Momenten nicht absichtlich, um ihre Eltern zu provozieren – sie sind einfach überfordert mit ihren Gefühlen. Das kann zwar sehr herausfordernd sein, aber es hilft, sich daran zu erinnern, dass es ein normaler Entwicklungsschritt ist. Um selbst ruhig zu bleiben, können Eltern bewusst tief durchatmen oder sich für einen kurzen Moment zurückziehen, wenn es die Situation erlaubt. Auch der Austausch mit anderen Eltern kann entlasten, denn oft erleben viele ähnliche Situationen. Wer merkt, dass ihn diese Momente besonders belasten, kann sich zusätzlich professionelle Unterstützung holen – zum Beispiel durch die Elternberatung frühe Kindheit von Pro Juventute. Niemand muss solche Herausforderungen allein bewältigen, und es ist völlig in Ordnung, sich Hilfe zu holen.
Hört das Hauen irgendwann von selber auf?
Kinder haben immer wieder mit ihren eigenen Grenzen zu kämpfen und deshalb können Trotzphasen in unterschiedlicher Stärke immer mal wieder auftreten. Aber je älter ein Kind wird, desto besser kann es in der Regel seine Wünsche in Worte fassen und erklären, was es möchte. Dadurch werden Wutanfälle und aggressives Verhalten meist seltener. Wenn ein Kind aber über längere Zeit sehr häufig und stark aggressiv bleibt, kann es sinnvoll sein, genauer hinzuschauen. In solchen Fällen kann es helfen, sich fachliche Unterstützung zu holen.
Das körperliche Raufen gehört zur kindlichen Entwicklung dazu.
Getty ImagesViele Kinder sind im Kindergarten total angepasst, kaum daheim lassen sie alle Emotionen raus und schlagen wild um sich. Wieso ist das so?
Das ist eigentlich ein gutes Zeichen. Wenn ein Kind zu Hause seine Gefühle frei zeigt, bedeutet das, dass es eine sichere Bindung zu seinen Eltern hat. Es weiss, dass es dort so sein kann, wie es ist, und dass seine Eltern es mit all seinen Gefühlen annehmen. Im Kindergarten muss es sich oft an Regeln halten und sich der Gruppe anpassen. Das kann anstrengend sein. Zu Hause fällt dieser Druck weg – das Kind fühlt sich sicher und lässt alles raus, was sich über den Tag angestaut hat. Auch wenn es für Eltern herausfordernd sein kann, zeigt dieses Verhalten, dass das Kind ihnen vertraut.
Ist Hauen eher Bubensache?
Studien zur frühkindlichen Aggression bestätigen das nicht. Und jedes Kind ist anders. Auch wenn es die gleichen Entwicklungsschritte durchläuft, sehen diese bei jedem Kind etwas anders aus.
Was tun, wenn das Kind Playdates wünscht, sobald das andere Kind aber da ist, wird das eigene körperlich, haut und will keine Spielsachen teilen?
Kinder müssen Fehler machen und lernen, Konflikte selbst zu lösen. Deshalb sollte man nicht immer sofort «Nein» sagen – es sei denn, es geht um ihre Sicherheit oder die anderer. Wichtig ist, die Situation im Blick zu behalten: Wann gibt es Spannungen? Gibt es Muster? Solche Beobachtungen helfen, Konflikte in Zukunft besser zu verstehen und vielleicht sogar zu vermeiden. Und es hilft, sich vorzubereiten und das Kind in die Vorbereitung einzubeziehen – was passieren kann und welche Alternativen es gibt, zum Beispiel: «Wenn du beim Spielen wütend wirst, kannst du auch das oder das tun.» Wenn ein Streit eskaliert und kein friedliches Spielen mehr möglich ist, hilft es oft am meisten, die Kinder einfach ohne Drohungen oder Schuldzuweisungen zu trennen. Nach ein paar Minuten – oder spätestens beim nächsten Treffen – ist die Situation oft schon viel entspannter.
Wie soll man reagieren, wenn sich das Kind beim anderen nicht entschuldigen will?
Manche Kinder brauchen erstmal Abstand, um sich wieder zu fangen. Wichtig ist, dass sie in diesem Moment Verständnis erfahren und wissen, dass die Situation sich bald beruhigen wird. Manchmal hilft es, das Kind in den Arm zu nehmen oder mit einem ruhigen Spiel abzulenken. Wenn es sich dann beruhigt hat, kann man in Ruhe darüber reden. Es ist gut, mit dem Kind zu besprechen, was nun tun könnte, um es wieder gut zu machen. Ausserdem sollten Eltern die Konflikte ihres Kindes nicht zu ihren eigenen machen. Es hilft, mit anderen Eltern zu sprechen und gemeinsam nach einer Lösung zu suchen. So bleibt die Situation entspannter für alle Beteiligten.