In unserer Nähe lebt ein Kind, das wegen seines Handicaps im Rollstuhl sitzt. Wir sehen die Familie immer wieder. Ich merke, dass ich mich im Umgang mit den Eltern nicht sicher fühle, aus Angst, sie zu verletzten oder ihnen durch eine unkorrekte Wortwahl zu nahe zu treten. Mir ist das Thema peinlich und ich weiss nicht wie ich mich verhalten soll. - Migi
Liebe Migi,
Auch ich fühle mich zeitweilen hilflos, wenn ich Eltern von Kindern mit Behinderung begegne. Was soll ich sagen, was fragen? Wollen Betroffene überhaupt gefragt werden? Erst gerade, es war mitten in einem Businessgespräch, erzählte mir eine Mutter völlig unerwartet von ihrem behinderten Kind. Mir viel nichts Schlaueres ein als ein: «Oh, das tut mir leid».
Für meine Reaktion könnte ich mich heute noch ohrfeigen. Denn Mitleid, das weiss ich eigentlich, hilft niemandem. Im Gegenteil. Es ist wertend und deswegen oft eine unangebrachte Reaktion.
Habt ihr auch ein Thema, das euch beschäftigt? Dann schreibt ein Mail an romina@schweizer-illustrierte.ch
«Viel schlimmer sind Leute, die starren»
Sandra, Mutter eines Sohnes mit zerebraler Bewegungsstörung
Für Sandra, Mami eines Teenager’s mit zerebraler Bewegungsstörung und Epilepsie, sind solche Sätze aber nicht einmal so unanständig. «Viel schlimmer sind Leute, die starren», sagt sie.
Oder Menschen, die ihr ungefragt Tipps geben, wie neulich in der Badi, als sie ihren Sohn aus dem Rollstuhl nahm und zu sich auf das Badetuch setzte. Der Anblick brachte eine ältere Dame derart aus der Fassung, dass sie aus dem Schwimmbecken stieg und Sandra anfauchte, sie möge ihrem Sohn doch bitte eine Sonnenbrille anziehen, sie fühle sich in ihrem Seelenfrieden gestört. «Solche Sprüche verletzen und ärgern mich. Auch weil ich ihn gerne schützen würde. Doch er reisst jede Brille runter», sagt Sandra.
Sie habe lieber, wenn man sie direkt anspreche und Fragen offen stelle. Ihre Lieblingsfrage sei: «Darf ich fragen, was er hat?». Dann erkläre sie es gerne.
Ähnlich empfindet Melanie. Ihr einjähriges Mädchen leidet am «Williams-Beuren-Syndrom». Sie schreibt im Namen ihrer Tochter einen Blog auf Instagram (@emma_viel_mehr_als_wbs), und äusserte sich erst kürzlich zum Thema: «Ich bitte euch höflich, nicht zu starren, oder andere Kinder aus Angst von mir wegzuziehen. Geht lieber direkt auf meine Mutter zu und fragt respektvoll nach dem Grund. Mama geht mit meiner Krankheit ganz offen um und wüscht sich einen freundschaftlichen Austausch.»
Noch seien die meisten Begegnungen angenehm, sagt Melanie im Gespräch. Doch werde Emmas Behinderung mit jedem Lebensjahr offensichtlicher und davor habe sie Respekt. «Ich will kein Mitleid für uns und Emma. Und auch nicht, dass mich andere mit Samthandschuhen anfassen. Das nervt!». Sie sei dankbar, wenn Eltern ihren Nachwuchs sensibilisieren: «Mir genügt, wenn Erwachsene darauf achten, dass ihre Kinder keine Schimpfwörter wie 'du Mongo' oder 'du Behinderte' brauchen.»
Liebe Migi, damit du bei der nächsten Begegnung gut gerüstet bist, helfen dir vielleicht die Tipps von Darla Clayton, Mutter eines Sohnes mit zerebraler Bewegungsstörung, weiter. Die Amerikanerin war derart genervt von den Reaktionen auf ihr Kind, dass sie in der «Huffington Post» mehrere Kommentare auflistete, die man bei Eltern von Kindern mit Behinderung besser nicht machen sollte.
- Nicht sagen: «Er sieht so normal aus. Man sieht gar nicht, dass etwas nicht stimmt.» Besser wäre: «Er sieht super aus, Sie müssen sehr stolz auf ihn sein.» Oder auch: «Ich wusste nicht, dass er dieses Problem hat. Er sieht großartig aus.»
- Nicht sagen: «Der Neffe des Cousins meines Bruders hat Autismus, also weiß ich, wie das ist.» Besser wäre: «Ich kenne ein anderes autistisches Kind, er steht echt auf Züge. Was mag ihr Kind denn besonders gern?»
- «Ich weiß echt nicht, wie sie das machen. Also, ich könnte das ja nicht.» Besser wäre: «Sie sind eine tolle Mutter, ihre Kinder sind so höflich.» Oder auch: «Sie müssen so stolz auf ihn sein, er ist ein großartiges Kind.»
- Keine Komplimente mit Bezug auf die Behinderung des Kindes machen. Etwa: «Ihr Sohn hat wirklich eine tolle Stimme für ein Kind mit Behinderung». Besser wäre: «Ihr Sohn hat wirklich eine tolle Stimme.»
Auch gilt es, auf allgemein gebräuchliche aber wirklich respektlose Schimpfwörter mit Bezug auf Behinderungen sowie Behindertenwitze zu verzichten.
Ich hoffe, ich konnte dir helfen, deine Unsicherheit abzulegen.
Herzlich, Romina
Unsere Expertin für Familienfragen
Nie waren Eltern so gut informiert wie heute. Und nie war es schwieriger, im Dschungel aus Ratgebern und Internetforen den besten Weg für den eigenen Nachwuchs zu finden. Unsere Familien-Expertin Romina Brunner hilft, Ordnung zu schaffen. Regelmässig berät die zweifache Mutter und Journalistin die SI-Family-Community zu Themen und Fragen aus dem Familienalltag.