Der Bursche schaut aus gerahmten Zeichnungen von den Wänden, steht als Pappkamerad neben dem Schreibtisch und posiert als freches Figürchen auf Simsen, Tischen und Büchergestellen. Titeuf bevölkert in dutzendfacher Ausführung die herrschaftliche Villa seines Erfinders Philippe Chappuis (57) genannt Zep. In der französischsprachigen Welt kennt jedes Kind den kleinen Schlingel mit der gelben Tolle. «Ihn zu erfinden, dauerte etwa zehn Sekunden», sagt Zep.
Entspannt sitzt er in einem tiefen Ledersessel in seinem Haus und erzählt. Er habe damals aus seiner ersten eigenen Wohnung an der Rue du Collège 12 in Carouge aus dem Fenster geschaut, direkt auf den Pausenplatz einer Primarschule. «Die Kinder rannten einander hinterher, veranstalteten ein riesiges Geschrei, und in meinem Kopf machte es ‹paff›: Meine eigene Schulzeit war wieder da – und die Idee zu Titeuf.» Der Name kommt von «petit œuf», kleines Ei, wegen des Eierkopfs des Comic-Helden. Heute schmückt eine Bronzestatue von Titeuf den Pausenplatz in Carouge, und am Haus gegenüber weist eine Tafel auf seinen Geburtsort im Jahr 1990 hin.
Philippe Chappuis im Entree seines Herrschaftshauses: «Ich bin nicht die Vorlage für Titeuf, sonst wäre nach drei Anekdoten schon Schluss gewesen.»
Nicolas Righetti«Die Geschichten handeln von einem Schulbuben und seinen Copains», sagt Zep, sie richteten sich aber ursprünglich an Erwachsene. Sie erkennen die Doppeldeutigkeiten, den Schalk und die kleinen Seitenhiebe in Zeichnungen, zum Beispiel Leute, die ständig auf ihr Handy starren. Titeuf ist aber längst auch der Held von Kindern und Teenies. Er ist loyal, wagemutig und zuweilen urkomisch, etwa wenn er mit seinem Spiegelbild das Küssen übt für den Ernstfall, denn er ist in Nadia verknallt, die seine Avancen regelmässig mit einer Ohrfeige quittiert.
In 25 Sprachen verfolgen grosse und kleine Fans rund um den Globus die Hürden, die auf Titeuf und seine Kumpel in der mysteriösen Welt der Erwachsenen lauern. Inspiration dafür sind Alltagsbeobachtungen, die Zep in Notizbüchern festhält. Mittlerweile besitzt er Hunderte. Der Mann hat aber auch eine blühende Fantasie und Ideen, auf die man erst mal kommen muss. Und diese erzählt er in seinen Comics: So will Titeuf die Erderwärmung mit einem simplen Trick aufhalten. Einfach Raketen an den Planeten binden und ihn etwas weiter weg von der Sonne platzieren. Zep lacht und sagt: «In meinem Kopf bin ich immer noch zehn Jahre alt, da sind solche Dinge möglich.»
Grünes Paradies in der City
Dank des Erfolgs seiner Comics und Illustrationen konnte Philippe Chappuis 2007 das Herrenhaus kaufen, in dem er lebt und arbeitet: 16 Zimmer auf 850 Quadratmetern mit einem weitläufigen Park, einem Rebberg und einem Wald, der bis hinunter ans Ufer der Rhone reicht. Mitten in der Stadt Genf. Rund 13 Millionen Franken soll Chappuis für das Anwesen bezahlt und es für über fünf Millionen renoviert haben. Heute ist es über 20 Millionen wert. Läge es nicht im Quartier Saint-Jean, sondern auf der anderen Seite des Genfersees, wäre es locker 50 Millionen wert.
Philippe Chappuis und Labradordame Wilson im weit-läufigen Park der Villa in Genf, zu der noch ein Weinberg und ein Stück Wald gehören.
Nicolas RighettiUnter dem Dach hat Zep sein Atelier. In den mittleren Etagen liegen die Schlafzimmer, zuunterst sind Bibliothek, Esszimmer und ein Salon mit Marmor-Cheminée, aus dem es heimelig nach verbranntem Holz riecht. In den hohen Räumen stehen komfortabel gepolsterte Möbel. Die Räume haben gepflegte, zwanglose Eleganz mit dieser unnachahmlichen französischen Nonchalance. Die Bücherregale quellen über, auf dem Esstisch liegt achtlos hingeworfene Post. Ein schönes Haus, ein gemütliches Zuhause.
Der Zugang führt über eine private Allee mit Bienenhäuschen. Die Wohnblöcke des Quartiers sind hinter Bäumen, Hecken und einem hohen Zaun kaum zu erkennen. Philippe Chappuis erwarb die Villa damals für seine fünfköpfige Familie «und weil ich endlich ein Atelier haben wollte, in dem ich nicht ständig den Kopf einziehen muss». Er arbeitet umgeben von Büchern, Vinyl-Schallplatten, Zeichnungen seines Idols Bob Dylan und Musikinstrumenten. Zep ist auch Musiker, sein Pseudonym eine Hommage an Led Zeppelin – und der Name des ersten Comic-Hefts, das er als Zwölfjähriger herausgab.
Seit 2021 spielt Zep mit Partnerin Valérie Martinez in der Rockband The Woohoo. Letztes Jahr erschien «Automatic Songs», ihr erstes Album.
Nicolas RighettiSchaut Zep von seinem Atelier über die Rhone nach rechts, sieht er die Häuser der Vorortgemeinde Onex, wo er aufgewachsen ist. Sein Vater war bei der Kriminalpolizei, seine Mutter Schneiderin. «Sie nähte zu Hause, ich sass den ganzen Tag neben ihr und zeichnete», erzählt Chappuis. «Es war das Paradies. Ich wollte nichts anderes machen im Leben. Meine Eltern überlegten sogar, mich ein Jahr später einzuschulen.» Nach der Schulzeit studierte Zep an der École des arts décoratifs in Genf, die damals eine Abteilung für Comics führte. «Immer wenn ich auf der Pont Butin über die Rhone fuhr», erinnert er sich, «konnte ich von der Brücke aus das Anwesen hier sehen. Es hat mich immer schon fasziniert.»
Allein mit seinen Comic-Figuren
Zep arbeitet grundsätzlich alleine. Einsamkeit komme dennoch nie auf, sagt er, im Gegenteil: «Nur so kann ich komplett in die Welt meiner Comics eintauchen. Ich zeichne ja nicht nur Titeuf, sondern auch realistische Comic-Bücher und Illustrationen.» Ab und zu gehe er mit Freunden klettern. «Aber richtig glücklich bin ich an meinem Zeichentisch.» Den würde er gern in ein kleineres Haus stellen, die Villa sei zu gross nur für ihn und seine Partnerin, die Fotografin und Musikerin Valérie Martinez. Der Deal mit der Stadt Genf über einen Verkauf scheiterte kürzlich. Nun sucht Zep private Käufer. Für Titeuf heisst es wohl bald Koffer packen.