Das «Happy Birthday» für Jewel ist ein klein bisschen ausser Takt. Das stört ihren Vater nicht. Chris von Rohr, 69, freut sich einfach, dass er den 20. Geburtstag seiner Tochter gemeinsam mit ihr in Zermatt VS feiern kann. Denn wäre Corona nicht dazwischengekommen, wäre von Rohr jetzt mit Krokus auf grosser Abschiedstournee rund um die Welt. Manchmal ist der richtige Ort zur richtigen Zeit ein anderer, als man gedacht hat. «Timing ist alles im Leben», sagt Chris von Rohr.
Wer könnte das besser wissen als er? Bassist, Produzent und somit Taktgeber der international erfolgreichsten Schweizer Rockband. Nach mehr als 46 Jahren, über 2000 Konzerten und 16 Millionen verkauften Tonträgern wollten sich Krokus mit einem Big Bang von den Bühnen dieser Welt verabschieden. Sie waren gerade in Mexiko, als ihnen Covid – wie so vielen anderen auch – den Live-Stecker zog. «Wir würden die Tour gern zu Ende bringen. Ob das möglich sein wird, steht in den Sternen», sagt Chris.
Als kleiner Lichtblick für die Fans gibts am 19. Februar ein CD- und DVD-Set des Krokus-Auftritts vom August 2019 vor 60 000 Leuten im norddeutschen Wacken, dem grössten Metal-Festival der Welt. Für von Rohr selbst ist es ein Riesentrost, dass sich die Band Ende 2019 von den heimischen Fans mit einem fulminanten Konzert im Zürcher Hallenstadion verabschieden konnte. «Da ist schon die eine oder andere Träne geflossen», gibt der Rocker zu. «Und rückblickend war dieser Auftritt kurz vor dem Lockdown genau das Richtige zum richtigen Zeitpunkt.»
Auch Jewel hat sich ihren Zwanzigsten mal ein wenig anders vorgestellt. «Klar wäre eine grosse Party cool gewesen. Ich vermisse den Ausgang, Kino und Konzerte. Aber schlussendlich ist das alles ja nicht so wichtig wie Familie und Freunde.» Nachdem ihre Pläne eines USA-Aufenthalts durchkreuzt wurden, ist sie seit vergangenem Sommer in Zermatt. Im Hotel Cœur des Alpes, das von langjährigen Freunden der von Rohrs geführt wird, kümmert sie sich um die Social-Media-Kanäle und hilft dort aus, wo es nötig ist.
«Ich bin unglaublich herzlich aufgenommen worden, und es ist total schön, hier sein zu dürfen», sagt Jewel. Und was gibts Besseres, als an seinem Geburtstag vom Papa in der kleinen – momentan nur fürs Frühstück geöffneten – Hotelküche mit dessen berühmten Spaghetti Tornado bekocht zu werden?
«Wäre sie 20 Jahre früher geboren, wäre Jewel mehr oder weniger ohne mich aufgewachsen.»
Dass sich dieser trotz seiner Abneigung gegen Kälte zu einer kurzen «Spritztour» auf die verschneite Terrasse überreden lässt, zeugt von dem engen Verhältnis, das Vater und Tochter haben. Chris war fast 50, als Jewel zur Welt kam. «Wäre sie 20 Jahre früher geboren, wäre Jewel mehr oder weni-
ger ohne mich aufgewachsen. Ich war ja ständig unterwegs», so der Musiker und Autor. Sie habe eine schöne Kindheit gehabt, sagt Jewel.
Ihre Eltern haben zwar nie zusammengelebt, die Tochter ist in zwei Haushalten aufgewachsen. «Aber wir drei waren stets eine Familie. Ich hatte nie das Gefühl, hin- und hergerissen zu sein.» Dass
auf dem Pausenplatz nach einem Zeitungsartikel über den Papa mal schräge Blicke fielen, war nicht immer angenehm. «Ich hatte dafür viele Privilegien, die andere nicht hatten.» Auch heute sei die Reduzierung darauf, «Tochter von» zu sein, ab und an mal nervig. «Aber wer sich sein Urteil über mich nur wegen meines Vaters bildet und sich keine Mühe macht, mich als eigenständige Person zu sehen, den brauche ich nicht in meinem Leben», sagt Jewel selbstbewusst.
Chris von Rohr hat keine Mühe damit, dass seine Tochter erwachsen ist. Auch wenn er sagt, dass Loslassen etwas vom Schwierigsten im Leben sei. «Jewel war nie mein Besitz. Sie darf auch hinfallen, davor kann ich sie nicht bewahren. Wieder aufzustehen und weiterzumachen – dazu werde ich sie immer ermutigen.»
Wie Jewel ihren Vater beschreiben würde? «Er ist frech …» – «Ich bin unerschrocken», wirft Chris ein. Jewel fixiert ihn mit einem durchdringenden Blick. «Ich bin dran!», meint sie lachend.
«Du bist frech, ehrlich, neugierig und ein sensitiver Mensch. Du machst mir immer Mut und bist für mich da, egal, was ist.» Und: «Du bist der beste Vater der Welt!»
Eine Aussage, die für Chris von Rohr «schöner ist als jede Goldene Schallplatte an der Wand». Schliesslich bezeichnet er seine Tochter nicht umsonst gern als seine «beste Co-Produktion».
Das Vater-Tochter-Duo trotzt der Kälte auf der Hotelterrasse mit einer dicken Decke. Und während es langsam dunkel wird, weicht Chris von Rohrs Rock-’n’-Roll-Laune für einen kleinen Moment der Nachdenklichkeit. «Tage wie diese sollte man einfrieren können», sagt er. «Ich hätte gern noch einmal 20 Jahre mit meiner Tochter. Aber das wird wohl schwierig.» Sie würden ab und zu über die-
ses Thema reden, sagt Jewel. «Dann könnte ich weinen.»
Und trotzdem: Das Timing war richtig für so ziemlich alles in Chris von Rohrs Leben. «Was nicht heisst, dass ich keine Fehler gemacht habe», betont der Schweizer-Illustrierte-Kolumnist. Aber ohne das schmerzhafte Zerwürfnis mit Krokus damals hätte es das fulminante Comeback nicht gegeben. Und ohne die tiefe Verbindung zu seiner Tochter «gäbe es mich, wie ich heute bin, nicht». Und es gäbe diesen Moment nicht. «Jewel wird ihren Weg gehen. Ich schätze mich glücklich, dass ich sie noch eine Weile begleiten darf.»
«Adios Amigos Live @ Wacken», ab 19. Februar im Handel. Infos:
www.krokusonline.com