Per Knopfdruck kann Anja Kutter (46) die Rampe unter dem VW-Minivan ausfahren. Philipp Kutter (50) zirkelt seinen Elektrorollstuhl vom Beifahrerplatz rückwärts so in Position, dass er perfekt auf die Rampe rollen kann und ihn der eingebaute Lift runter auf die Strasse vor den Bahnhof Ligerz BE setzt. Die erste Hürde ist geschafft! «Reisen und Ausflüge sind für uns eine Herausforderung geworden», sagt der Mitte-Nationalrat. Zusammen mit seiner Frau und seiner Tochter Lisa (13) bereist er am Bielersee ein Stück der ersten barrierefreien Schweiz-Tour, welche die Stiftung Claire & George kürzlich lanciert hat. «Für uns ist dieses Angebot eine grosse Erleichterung. Ansonsten lautet die Devise: Wir probieren es. Umkehren können wir immer», sagt Anja Kutter.
Als die Schweizer Illustrierte Philipp Kutter im August 2023 traf, war an Reisen nicht zu denken. Kutter ist damals Patient im Paraplegiker-Zentrum in Nottwil LU. Sieben Monate zuvor war der Stadtpräsident von Wädenswil ZH ohne Fremdeinwirkung auf einer blauen Piste in Scuol gestürzt und hatte sich dabei den fünften Halswirbel gebrochen. Die Diagnose: inkomplette Tetraplegie, er ist von der Schulter abwärts gelähmt. Bis zu sieben verschiedene Therapien absolviert er pro Tag, von Physio bis zur Robotik – Pause gibts nur an den Wochenenden.
Heute schafft es Kutter dank Personenlift und bodentiefen Schiebetüren problemlos in die Standseilbahn Vinifuni, welche die Familie vom Winzerdorf am Bielersee durch Weinberge hinauf nach Prêles fährt. Mit der rechten Hand steuert er den Elektrorollstuhl, mit der linken tippt er mit dem kleinen Finger aufs iPhone, um seiner Tochter ein Ticket zu lösen. Den linken Arm kann er wieder beugen und durchstrecken, seit ihm die Ärzte bei einer Operation eine seiner Schultersehnen in den Trizeps umgehängt haben. Seine Muskeln und seinen Rumpf stärkt er zweimal wöchentlich mit Physio- und Ergotherapie. «Darum sitze ich heute aufrechter und stabiler im Rollstuhl.»
1000 Fragen vor den Ferien
Vor seinem Unfall war Kutter sportbegeistert. Der ehemalige Handballspieler brachte seinen Kindern früh das Schwimmen im Zürichsee bei, spornte seine Familie zu abenteuerlichen Wandertouren an. «Natürlich schmerzt es, dass ich heute nicht mehr jeden Gipfel besteigen kann. Aber ich bin dankbar, dass immer mehr möglich ist.» Wie etwa in Savognin GR, wo die Familie ihre Sommerferien verbrachte. Dank einem Geländerollstuhl mit breiten Rädern konnte Kutter mit seinen Kindern leichte Wanderungen absolvieren. «Wir haben sogar Murmeli gesehen», sagt Lisa.
Wie bei allen Ausflügen ist Kommunikationsfachfrau Anja Kutter für die Organisation und die Familienfotos zuständig.
Kurt ReichenbachDer Aufwand für eine solche Reise ist allerdings gross: Zwei Tage Vorbereitung brauchte Anja Kutter für die Woche in Graubünden. «Wer mit einem Rollstuhl reist, musst zuerst 1000 Fragen klären – von der Unterkunft über die Transportmittel bis zur Spitex-Betreuung.»
Dass rollstuhlgängig eben nicht gleich rollstuhlgängig ist, zeigt sich bei der Bergstation der Standseilbahn in Prêles. Zwar gibt es da einen Rollstuhllift, doch dieser ist für ein Maximalgewicht von 225 Kilo konzipiert, wie auf einem Kleber vermerkt ist. Kutter wiegt mit seinem Elektrorollstuhl rund 280 Kilo. «On essaye – wir versuchens», sagt Kutter zuversichtlich zum Seilbahnpersonal und rollt auf die Rampe. Lisa blickt etwas besorgt. «Nicht dass Papi mit dem Lift stecken bleibt.» Etwas nervös scheinen alle zu sein. «Wir mussten wegen solchen Lifts auch schon umkehren», sagt Anja Kutter. Doch heute klappts!
In der Buvette mit Sicht auf die Alpen und den Bielersee gibt es keine Hindernisse mehr. Kutter rollt an den Tisch. Das Wasserglas kann er inzwischen halten. Das Besteck für das Schweinssteak und die Pommes hält er mithilfe eines Lederriemens, der um seine Hand gebunden ist – allerdings erst, nachdem ihm seine Frau alles zurechtgeschnitten hat. Körperlich seien die Fortschritte zwar nicht so gross, wie sie sich ihr Mann zu Beginn der Therapie erhofft habe. «Dafür ist heute sein Umgang mit der Beeinträchtigung und dem Rollstuhl viel natürlicher und sicherer», sagt Anja Kutter.
Regelmässige Mahlzeiten – am besten fünf kleinere Portionen – sind für Kutter wesentlich. «Damit mein Blutzucker nicht zusammensackt», erklärt er.
Kurt Reichenbach
Nach dem Essen gehts für die Familie – die jüngere Tochter Julia, 11, ist mit Freunden auf einer Wandertour – den Rebbergen entlang Richtung Kirche Ligerz. «Anfangs habe ich oft mit meinem Schicksal gehadert und mich gefragt: Wieso gerade ich?», erzählt der Mitte-Politiker. Nach vielen Gesprächen mit Freunden und der Familie sei diese Frage aber nicht mehr so präsent. Den steilen Hang hinauf legt Kutter ein gutes Tempo vor: Zwölf Kilometer pro Stunde kann der Elektrorollstuhl maximal fahren. Lisa muss schnell laufen, um ihrem Vater nachzukommen. Als er anhält, legt sie liebevoll die Arme um ihn und gibt ihm einen Kuss auf die Stirn. Die Sek-Schülerin kann sich gut vorstellen, in Zukunft etwas im Bereich Medizin oder Pflege zu machen. «Das interessierte mich vorher schon. Doch seit Papis Unfall noch mehr.»
Betreuung ist riesige Aufgabe
Seine beiden Töchter seien wahnsinnig hilfsbereit und liebevoll. «Gestern hat Lisa mir zum Beispiel ein Käsebrötchen gemacht», sagt Kutter und streicht seiner Tochter übers Gesicht. Anja Kutter liegt viel daran, dass ihre Kinder durch die Beeinträchtigung ihres Mannes nicht selbst eingeschränkt sind. «Sie sollen einfach Kind sein können. Darum übernehme ich so viel wie möglich.» Was für seine Frau, die in einem 80-Prozent-Pensum das gemeinsame Kommunikationsbüro führt, einen weiteren Vollzeitjob bedeutet. Zusammen mit der Spitex hilft sie ihrem Mann morgens beim Aufstehen, legt ihm die Kleider für den Tag zurecht, macht das Frühstück, fährt ihn zu Terminen, kauft ein, kocht. Hinzu kommen all die Dinge, die er früher erledigte – wie etwa Haushaltgeräte und die Trottis der Kinder reparieren, Spinnen einfangen, schwere Kisten schleppen.
In der Altstadt von Biel kann sich Kutter mit seinem Rollstuhl eigenständig bewegen. Tochter Lisa sucht immer wieder seine Nähe.
Kurt Reichenbach«Es ist aussergewöhnlich, was Anja alles schultert. Dafür bin ich wahnsinnig dankbar. Ohne sie ginge es nicht», sagt er. Die beiden sind seit 15 Jahren ein Paar, vor 13 Jahren haben sie geheiratet. Obwohl sie teilweise sehr müde sei, stellt Anja Kutter klar: «Ich sehe Philipp nicht als Belastung.» Sie hätten es immer noch schön miteinander, würden viel lachen und pflegen Rituale wie jeweils zusammen «10 vor 10» schauen. «Aus den gemeinsamen Momenten schöpfe auch ich Kraft.»
Zurück auf der Skipiste
Ein besonderer Moment entstand in den Sportferien im Februar im Sörenberg. Da wagte Philipp Kutter sich zwei Jahre nach seinem Unfall wieder auf die Skipiste. Auf einem Dualski, einer Art Rollstuhl für den Schnee, fuhr er zusammen mit einem Skilehrer die Piste runter. «Klar hatte ich Respekt davor. Ich wusste ja nicht, wie ich emotional reagieren würde. Doch es gefällt mir immer noch total gut.» Anja lacht und nimmt seine Hand. «Er ist in die Kurven gelegen wie der alte Philipp.» Lisa nickt. «Das war schon cool.» Nun freuen sich die Kinder auf die Herbstferien – es geht ans Meer nach Teneriffa. Die Kanareninsel soll besonders barrierefrei sein. Anja Kutter ist schon seit Wochen an der Recherche dran.
Seit 15 Jahren Seite an Seite. Anja und Philipp Kutter schöpfen Kraft aus gemeinsamen Momenten. «Wir sind dank-bar für alles, was wieder möglich ist.»
Kurt ReichenbachDie Schweiz bewege sich in Sachen barrierefreies Reisen im guten Mittelfeld. «Wobei wir da auch noch nicht so viele Vergleiche haben», sagt Philipp Kutter. Problematisch allerdings sei der öffentliche Verkehr. Der müsste seit Januar 2024 komplett barrierefrei sein. Dies sei aber bei Weitem nicht der Fall. Nicht mal in den grossen Bahnhöfen wie etwa Bern. «Je nach Perron ist es Glückssache, ob man mit dem Rollstuhl rausrollen kann oder nicht.» Als Präsident der Verkehrskommission sei er nun mit Bundesrat Albert Rösti daran, dass es im ÖV endlich vorwärtsgehe. Natürlich habe ihn sein eigenes Schicksal affiner für Inklusionsthemen gemacht. Er setzt sich etwa dafür ein, dass noch mehr Menschen mit Beeinträchtigungen den Weg zurück in den Arbeitsmarkt finden – mit steuerlichen Anreizen für Firmen.
Nach einem Bummel in der Altstadt von Biel macht sich die Familie auf den Heimweg. «Ein Vorteil ist, dass wir unser Auto an Orten parkieren dürfen, wo es sonst verboten wäre», sagt Philipp Kutter augenzwinkernd. Sein grosser Wunsch sei, in Zukunft wieder selbst Auto zu fahren – auch um seine Frau zu entlasten. Dazu lässt er im kommenden Jahr noch seinen rechten Arm operieren. «Einfach losfahren können – das wäre schon ein grosses Stück Lebensqualität.»