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Ein klein bisschen Normalität 

Wie Ariane Schweizer Kindern im Spital Normalität schenkt

Sie stehen vor Herausforderungen, die weitaus existenzieller sind als Mathe-Aufgaben. An der Spitalschule des Zürcher Kispi zeigt Lehrerin Ariane Schweizer den Alltag von Kindern – an dem rein gar nichts alltäglich ist. 

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<p>Spitallehrerin Ariane Schweizer löst Mathe-Aufgaben mit Yannick (9) der an einem Immundefekt<br />leidet und eine Infusion erhält.</p>

Spitallehrerin Ariane Schweizer löst Mathe-Aufgaben mit Yannick (9) der an einem Immundefekt
leidet und eine Infusion erhält.

Fabienne Bühler

Sie gehört zu den Menschen, die strahlen, wenn sie mit einem sprechen. Ariane Schweizer aus Baden AG unterrichtet seit zwölf Jahren an der Spitalschule für Patientinnen und Patienten des Universitäts-Kinderspitals Zürich, kurz Kispi. Die 50-Jährige hat eine lange Karriere als Sekundarlehrerin, Schulleiterin und Schulische Heilpädagogin hinter sich. Medizinischen Hintergrund hat sie keinen. Den braucht sie hier auch nicht.

<p>Ariane Schweizer im Schuss. Ihr Materialwagen ist ihr fliegendes ­Klassenzimmer.</p>

Ariane Schweizer im Schuss. Ihr Materialwagen ist ihr fliegendes Klassenzimmer.

Fabienne Bühler

Ablenkung durch Schulalltag

Die zum Teil schweren körperlichen und psychischen Leiden ihrer Schülerinnen und Schüler sollen hier für einmal nicht im Zentrum stehen – weder in den Schulräumen im neuen Kinderspital, das im November 2024 eröffnet wurde, noch dort, wo Schweizer am häufigsten unterrichtet: direkt am Spitalbett. «Wir sprechen wenn möglich nicht über die Krankheit», sagt sie. «Sie soll für kurze Zeit vergessen sein.»

An diesem Donnerstag sitzt sie neben dem neunjährigen Yannick, der mit seiner Mutter aus dem Aargau nach Zürich gereist ist. Er hat raspelkurze blonde Haare und lächelt, als wollte er den Stress des Tages, den er heute hier verbringt, verscheuchen. In seinem linken Ohrläppchen steckt ein Ohrring, in seinem linken Arm eine Kanüle.

Yannick leidet an einem Immundefekt. Seit zwei Jahren erhält er intravenös Antikörper verabreicht, die sein Körper nicht selbst bilden kann. Eine Prozedur, die rund sechs Stunden dauert. Für einen Buben in seinem Alter ein Kraftakt. «Ich habe das Gefühl, dass du ein bisschen Hunger hast», sagt die Lehrerin zum Drittklässler, der mit ihr ein Aufgabenblatt zum Thema Multiplikation löst.

Zum Zmittag bestellt er stets Omeletten mit Nutella. Zwischen der Schulstunde und dem Kommen und Gehen von Ärztinnen, Ärzten sowie anderem medizinischem Personal bleibt vielleicht noch ein bisschen Zeit für Ablenkung am iPad.

<p>Eine kleine Patientin bemalt eine Schale aus Pappmaché. Darin will sie später Schmuck aufbewahren.</p>

Eine kleine Patientin bemalt eine Schale aus Pappmaché. Darin will sie später Schmuck aufbewahren.

Fabienne Bühler

Yannick soll möglichst wenig verpassen, wenn er nicht in die Schule kann. «Vor allem in Mathematik», sagt seine Mutter.» Es sei praktisch, wenn die Lehrerin gleich neben einem sitze und alles erkläre, sagt Yannick. Auch wenn er immer erleichtert sei, wenn er den Spitaltag hinter sich habe.

Das gilt auch für Dario, zehn Jahre alt, der im selben Zimmer an die Infusion angeschlossen ist – auch bei ihm soll sie helfen, sein geschwächtes Immunsystem zu stabilisieren. Er ist mit seinen Eltern angereist – ebenfalls aus dem Aargau – und hofft, die Behandlung bald zu Hause über sich ergehen lassen zu können. Die Eltern wünschen sich, dass die Therapie endlich dazu führt, dass ihr Sohn seltener krank ist als vor der Diagnose.

<p>Dario (10) mit seinen Eltern. Sie sind sehr dankbar für die schulische Unterstützung.</p>

Dario (10) mit seinen Eltern. Sie sind sehr dankbar für die schulische Unterstützung.

Fabienne Bühler

Austausch ist wichtig

Ein grosser Teil von Ariane Schweizers Aufgabe besteht darin, zwischen den Kindern, den Eltern und der sogenannten Heimatschule zu vermitteln. Viele Lehrpersonen haben kaum Erfahrung im Umgang mit chronisch oder schwer kranken Schülerinnen und Schülern. Der Austausch sei generell wichtig, sagt die Lehrerin. Die Lehrpersonen der Heimatschule informieren sie vor jeder Spitalschulstunde darüber, welche Lernziele gerade im Vordergrund stehen und wo die Betroffenen Unterstützung benötigen.

Patientinnen und Patienten, die länger als zwei Wochen eines der rund 200 Betten belegen oder – wie Yannick und Dario – wiederholt hospitalisiert werden müssen, meldet das Kispi bei Schulleiterin Barbara Trechslin für eine Teilnahme am Unterricht an, sofern die behandelnden Ärztinnen oder Ärzte keine Einwände haben. «Wir orientieren uns am Lehrplan 21», sagt Trechslin. Dieser legt den Fokus auf die Entwicklung von Fähigkeiten und Fertigkeiten, anstatt sich ausschliesslich auf die Vermittlung von Wissen zu konzentrieren. «Das spielt uns in die Hände», sagt Barbara Trechslin.

Ihr Team – drei Kindergärtnerinnen, vier Lehrpersonen, eine Werklehrerin und eine Praktikantin – muss oft innerhalb von Sekunden herausfinden, was für jedes einzelne Kind am jeweiligen Tag möglich ist und was ihm am meisten hilft.

<p>Werklehrerin Colette Krummenacher ­bereitet den Unterricht vor. Der Raum, in dem er <br />statt­findet, ist so ­etwas wie das Herzstück der Schule am Kinderspital Zürich.</p>

Ariane Schweizer bereitet den Unterricht vor. Der Raum, in dem er stattfindet, ist so etwas wie das Herzstück der Schule am Kinderspital Zürich.

Fabienne Bühler

Patientinnen und Patienten, die ihr Spitalzimmer verlassen dürfen, besuchen täglich von Montag bis Freitag am Morgen eine Stunde den Werkunterricht und am Nachmittag eine Stunde den Gruppenunterricht. Die anderen werden einzeln am Bett im Zimmer unterrichtet. «Wir unterrichten auch auf Gymnasialstufe und haben Berufslehrlinge», sagt Trechslin. In erster Linie gehe es nicht um Leistung, sondern darum, den Betroffenen ein klein bisschen Normalität in einer aussergewöhnlichen Situation zu verschaffen. «Wenn uns das ab und zu gelingt, haben wir schon viel erreicht.»

Job fordert emotional viel – gibt aber auch viel

Wie viel unerschütterlicher Optimismus dieser Job erfordert, zeigt sich im Werkunterricht, der an diesem Tag in einem der drei Schulräume stattfindet. Sechs Kinder nehmen teil. Einige von ihnen leiden so stark an psychischen Problemen, die sich körperlich bemerkbar machen – etwa durch Zittern –, dass sie nicht mehr gehen können und auf den Rollstuhl angewiesen sind.

Unter Aufsicht von Colette Krummenacher, Lehrerin für bildnerisches und dreidimensionales Gestalten, setzt ein Junge einen Modellbogen zu einem Spaceshuttle zusammen. Ein Mädchen bemalt eine muschelförmige Schale aus Pappmaché mit blauer Farbe. Ein anderes schneidet mit einer kleinen Schere Algen aus buntem Papier für eine Unterwasserwelt.

Wer mit ansieht, wie wenig Fortschritt ein Kind macht, das mit nur einem Arm versucht, die Kante eines Gegenstands abzuschleifen, der ständig auf der Tischplatte verrutscht, muss sich vor Augen halten, dass halt auch ein Tropfen auf den heissen Stein irgendwann mal eine Delle verursacht.

Der Job fordere emotional heraus, sei aber auch sehr belohnend, sagt Ariane Schweizer. Im Zimmer mit den Buben, wo sich die Infusionsbeutel langsam leeren, erfährt sie an diesem Tag, dass Dario einen sogenannten Nachteilsausgleich erhält.

Das bedeutet, dass er Prüfungen in zwei Teilen schreiben darf – unter anderem, weil die Medikamente ihn stark ermüden. Schweizer hatte das angeregt. Bei Darios Mutter und Vater weicht die Anspannung besorgter Eltern für kurze Zeit aus dem Gesicht, als sie die gute Nachricht überbringt. Beim Abschied drücken sie ihr lange die Hand. 

Von Jonas Dreyfus am 31. August 2025 - 07:00 Uhr