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Hans-Rudolf Merz

Der Widerspenstige

Er kam als Hoffnungsträger, wurde zum Prügelknaben und ging als bester Finanzminister Europas. Erstmals nach seinem Rücktritt schaut alt Bundesrat Hans-Rudolf Merz zurück: «Es war eine Achterbahn!»

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Pensionär Merz, 68, zeigt der Schweizer Illustrierten sein Herisau AR.
Kurt Reichenbach

Es ist drei Minuten vor zehn, als wir ankommen – alt Bundesrat Hans-Rudolf Merz steht schon in Winterjacke und Schneestiefeln bereit. Mit festem Schritt geht er voran auf den tief verschneiten Hügel hinter seinem Haus. Er zeigt uns sein Herisau. Hier die psychiatrische Klinik, wo der Rorschach-Test erfunden wurde, da der Komponentenhersteller Huber + Suhner, bei dem er lange Verwaltungsrat gewesen war, dort der Ortskern mit Kirche, Regierungsgebäude und Kulturstätte. «Auf dem Hügel vis-à-vis», sagt der ehemalige Finanzminister, «hat man am Weihnachtstag 1956 den Schriftsteller Robert Walser tot im Schnee gefunden. Herzattacke.» Er macht eine kurze Pause. «Und auf der Strasse direkt darunter habe ich vor zwei Jahren meinen Herzstillstand gehabt.» Er kann sein Glück noch immer kaum fassen: «Das passiert in der Schweiz jedes Jahr 8000 Menschen. Nur 400 überleben!»

Schweizer Illustrierte: Herr Merz, sind Sie froh, nicht mehr Bundesrat zu sein?
Hans-Rudolf Merz: Tja, das ist eine zwiespältige Sache. Einerseits bin ich erleichtert und geniesse die Zeit. Andererseits fehlt mir die Verantwortung, die ich gerne getragen habe. Insgesamt aber freue ich mich auf das, was kommt.

Ende Oktober hatten Sie Ihren letzten Arbeitstag in Bern. Was haben Sie seither unternommen?
Ich habe eine grosse Argentinien-Reise gemacht, bin Bus gefahren, durch die Anden getrampt. Jeden Tag habe ich mir ein kleines Programm zusammengestellt. In Buenos Aires sah ich Verdis letzte Oper: Falstaff ist ja eine alternde Figur, das passte gut!

Wie gefiel es Ihrer Frau in Südamerika?
Ich fand es richtig, einmal alleine eine Reise zu machen. Ich habe es sehr genossen!

Haben Sie in Buenos Aires die Schweizer Botschafterin Carla Del Ponte besucht?
Nein, ich habe niemanden besucht. Und niemand kannte mich.

Was antworteten Sie, wenn man Sie fragte, wer Sie sind?
«Rentista» oder «Jubilado», wie man in Argentinien sagt. Rentner! Das war ein grosses Vergnügen. In Buenos Aires begegnete ich zwei Schweizer Paaren. Die wussten natürlich, wer ich bin.

Wie sind Sie gereist?
Nur mit einer kleinen Tasche. Unterwäsche habe ich dort gekauft und auch dort gelassen. Wieso soll man Wäsche über den Ozean transportieren?

Aber ein Buch haben Sie mitgenommen!
Nur den Dumont-Reiseführer.

Wie sind Sie geflogen?
Business. Selbst bezahlt.

Früher durften alt Bundesräte ja gratis Swissair fliegen.
Ich habe als Ständerat selbst mitgeholfen, dieses Privileg abzuschaffen.

Sie sind vor sieben Jahren als Hoffnungsträger gewählt geworden …
Jeder ist ein Hoffnungsträger! (Lacht.)

… mussten während der Libyen-Krise viel Prügel einstecken …
Jawohl.

… und traten fast unbemerkt von der Öffentlichkeit als bester Finanzminister Europas ab. Wie haben Sie das erlebt?
Als Achterbahn! Ich spürte, dass die Prügel viel mit Ungeduld zu tun hatten. Aber unter acht Millionen Menschen muss es sieben Menschen geben, die diese Prügel aushalten.

Sie haben einfach alles weggesteckt?
Ich bin nie ausgerastet und habe bei Attacken nie Schwächen gezeigt. Ich habe sie erduldet – im Wissen, dass ich meine Ziele erreichen werde. Ich bin immer mit mir im Reinen gewesen.

Auch während der Libyen-Krise?
Ich habe Tausende von Zuschriften aus der Bevölkerung erhalten und sehr viel Zustimmung erfahren. Das gab mir die Gewissheit, dass die Leute die Dinge anders gewichten als die Politiker.

Die Geschäftsprüfungskommission hat Sie hart kritisiert.
Ich kommentiere diesen Bericht nicht. Der Bundesrat hat noch nicht Stellung genommen. Das ist tabu.

Gibt es im Rückblick etwas, das Sie heute anders machen würden?
Fundamental nicht, nein. Im Nachhinein kann man alles hinterfragen. Manchmal ist der Moment des Zugreifens wichtiger als die Ressourcen, über die man verfügt. Aber was passiert ist, ist passiert. Ich kann die Geschichte nicht ändern.

Wie haben Sie Ihr letztes Jahr als Bundesrat erlebt?
Für mich löste sich im Sommer viel auf: die Doppelbesteuerungsabkommen und die Staatsrechnung 2009 gingen durch die Räte, der Bundesrat genehmigte das Budget 2011, die Rückkehr der beiden in Libyen festgehaltenen Schweizer. Ich fand, das sei der richtige Zeitpunkt für einen Rückzug.

Noch vor einem Jahr hätte niemand gedacht, dass Sie einmal mit einer so guten Bilanz abtreten können.
Gewisse Projekte müssen erdauert werden. Die Schuldenbremse brauchte ein, zwei Jahre, bis sie griff. Auch bei den Doppelbesteuerungsabkommen mit Deutschland dauerte es eine gewisse Zeit, bis das Eis brach. Am Schluss kam irgendwie alles zusammen.

Hätte Sie etwas dazu bewegen können, bis zum Ende der Legislatur zu bleiben?
Ja, wenn Rachid Hamdani und Max Göldi nicht freigekommen wären! Wenn Berufsleute eines exportorientierten Landes im Ausland so etwas zustösst, muss der Staat da sein. Daran lag mir viel.

Was ist Ihr Vermächtnis?
Die stabilen Finanzen. Für Europa bahnt sich wegen der Schulden- und Euro-Krise eine ungewisse Zukunft an. In meinen sieben Jahren gelang es, 20 Milliarden Franken Schulden abzubauen. Parallel realisierten wir Steuerprojekte für Ehepaare, Familien mit Kindern, KMU und die Beseitigung der kalten Progression – Steuererleichterungen von über zwei Milliarden Franken! Das gibt uns Handlungsspielraum.

Finanzminister sind bei ihren Kollegen in der Regel nicht beliebt. Sie müssen knauserig sein und hartnäckig.
Natürlich hatten meine Bundesratskollegen keine Freude, dass ich ständig Mitberichte verfasste. Aber ich habe alle gleich behandelt. In dem Sinn war ich nicht unbeliebt. Aber gefürchtet (lacht).

Sie sind mit dem Anspruch angetreten, die Mehrwertsteuer zu vereinfachen. Damit sind Sie gescheitert.
Die neue Mehrwertsteuerstruktur ist seit dem 1. Januar in Kraft. Sie hat deutliche Vereinfachungen und Steuererleichterungen von einer halben Milliarde gebracht. Die Wirtschaft ist damit zufrieden. Aber bei der Vereinheitlichung der Steuersätze gibt es tatsächlich grosse Probleme.

Woran sind Sie gescheitert?
Alle sagen immer, man müsse vereinfachen. Aber wenn man mit Vorschlägen kommt, passiert das Gegenteil. Wir haben heute 25 Ausnahmen, und hinter jeder steht eine Lobby, die mit Kräften für den Erhalt ihrer Ausnahme kämpft. Es ist wie beim Weihnachtsschwimmen in Genf: Bei den Temperaturen gehen die Leute nur ins Wasser, wenn alle in ein Glied stehen, auf drei zählen und miteinander reinspringen. Allein bringen Sie keinen ins eisige Wasser.

Der streitbare ehemalige deutsche Finanzminister Peer Steinbrück sagt, Sie seien ein harter Verhandlungspartner gewesen. Wie war Ihr Verhältnis zu ihm?
Ich habe in all den Jahren nie einen Kollegen persönlich angegriffen. Das ist nicht mein Stil. Ich habe Herrn Steinbrück immer wieder erklärt, dass wir unser System, das von unten her gewachsen ist, nicht einfach über Bord werfen können.

Hat er das verstanden?
Verstanden schon, aber er konnte es nicht mittragen. Er sagte: Wir haben ein System, das EU heisst und ein entsprechendes Begleitorchester hat. Wer diese Musik nicht mitspielt, riskiert, disqualifiziert zu werden. Der Graben zwischen der Schweiz und der EU wird im Fiskalbereich gross bleiben.

Man hatte damals den Eindruck, Steinbrück habe Sie über den Tisch gezogen.
Das stimmt einfach nicht! Ich habe mit Herrn Steinbrück keine Abmachungen getroffen, keinen Vertrag abgeschlossen. Die Lösung kam erst mit Wolfgang Schäuble zustande. Er wusste, dass der Stil seines Vorgängers nicht zum Ziel führt. Allerdings ist die EU mit den Doppelbesteuerungsabkommen nicht zufrieden. Sie will den automatischen Informationsaustausch. Ein Zahlenfriedhof, gegen den wir uns wehren müssen.

Sie sind als Totengräber des Bankgeheimnisses bezeichnet worden.
Ich habe immer gesagt, dass das Bankgeheimnis Steuerhinterziehung und Steuerbetrug nicht schützt. Das Bankgeheimnis war nie absolut. Künftig leisten wir in Einzelfällen mit Anfangsverdacht Amtshilfe. Das ist alles. Die Privatsphäre bleibt gewahrt. Der Vorwurf ist total übertrieben.

Wie wird sich das Verhältnis Schweiz–EU in den nächsten Jahren entwickeln?
Wir kennen nun die Wünsche der EU. Und wir kennen unsere Ausgangslage: Eine Mehrheit der Schweizer lehnt den EU-Beitritt ab. Das muss Brüssel akzeptieren. Ich bin nicht der Meinung, dass der bilaterale Weg zu Ende ist.

Aber er wird immer steiniger.
Schauen Sie doch nur, welche Diskussionen die EU wegen der Schuldenkrise derzeit führt. Das ist dramatisch! Auch die EU wird sich bewegen müssen. Für mich gibt es im Moment keinen Grund, unsere Haltung zu ändern. Aber ich habe ja keinen Einfluss mehr.

Was machen Sie jetzt mit Ihrer Zeit?
Ich habe einen riesigen Nachholbedarf in Sachen Literatur. Ich will lesen! Im Moment bin ich an Goethes «Dichtung und Wahrheit». Die FDP hat mir eine Goethe-Gesamtausgabe geschenkt.

Und sonst?
Die Finanzkommissionen der Räte beschenkten mich grosszügig mit Opern-DVDs. Statt an Sitzungen teilzunehmen, schaue ich nun morgens um acht Mozart-Opern. Das ist unglaublich schön. Aber ich will nicht untätig bleiben. Ich werde ab Januar im Vorstand der Patenschaft für Berggemeinden mitwirken.

Derweil Moritz Leuenberger Verwaltungsrat beim Baukonzern Implenia wird …
Das müssen Sie mit ihm besprechen!

Ein Mandat in der Wirtschaft steht nicht zur Diskussion?
Im Augenblick nicht, nein.

Sie hatten früher viele Mandate. Sie bekommen doch sicher Angebote!
Ich bin jetzt 68, und die meisten börsenkotierten Unternehmen kennen eine Altersguillotine bei 70. Aus Erfahrung weiss ich, dass es ein, zwei Jahre dauert, bis man in den Dossiers ist. Das lohnt sich nicht mehr.

Im September 2008 sind Sie ganz knapp dem Tod entronnen. Wie geht es Ihnen gesundheitlich?
Besser als vorher. Ich habe ja fünf Bypässe! Seit ich aus dem Spital kam, hatte ich nie die geringsten Probleme. Im Gegenteil: Diesen Sommer bestieg ich den Piz Languard, 3200 Meter, allein, problemlos. Ich staune selbst, wie leistungsfähig ich bin.

Wir waren sehr überrascht, als Sie damals gleich wieder an die Arbeit gingen.
Ich hatte von Anfang an ein sehr gutes Gefühl. Und keine Schmerzen.

Auch keine Angst, dass Ihnen wieder etwas passieren könnte?
Nein. Wer so etwas überlebt, braucht einen gewissen Fatalismus. Wenn es passiert, passiert es.

Apropos Fatalismus. Müssen wir bei den Wahlen 2011 um den Freisinn bangen?
Nein. Ein liberaler Geist setzt sich immer durch.

Aber es geht schon jetzt steil bergab.
Ein liberaler Geist setzt sich immer durch.

Wie wird die SP, die an der Überwindung des Kapitalismus arbeitet, abschneiden?
Ein liberaler Geist setzt sich immer durch.

Von Lukas Egli am 20. Dezember 2010 - 10:08 Uhr, aktualisiert 20. Januar 2019 - 20:09 Uhr