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Rokpa-Kinder

Erfolgreicher Tourstart mit Soulsänger Seven

Zehn kleine Schauspieler und Tänzer aus Kathmandu sind in diesen Tagen in der Schweiz. Die einstigen Bettelkinder sind mit Stars wie Bastian Baker, Sina und Anna Rossinelli auf Tournee - mit riesigem Erfolg.

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Wenn sich drei Kinder in eine nasse Kartonkiste zwängen, um am Strassenrand ein paar Stunden zu schlafen - sicher vor streunenden Hunden, ihrem Prügel-Vater oder dem kalten Wind -, dann bleibt als einziger Trost ein Gefühl, das nicht beschützt und auch nicht wärmt: Sie sind nicht allein in den Strassen von Nepals Hauptstadt Kathmandu. Lea Wyler denkt immer wieder an solche Szenen, wenn eines ihrer Kinder plötzlich traurig ist. Dann spürt sie - jetzt kommen die schlimmen Gefühle zurück.

Als sie die Arvenholztür zu ihrem alten Kinderzimmer aufstösst, ist das Leben in Kathmandu weit weg. Durch die schmalen Fenster des Bündner Berghauses in Celerina scheint durch rot karierte Vorhänge ein Sonnenstrahl, in dem Staubkörner tanzen. Zwei schmale Kinderbetten ducken sich in den Ecken unter flauschigen Decken. Decken in denen sie einst Sommerferiennächte durchträumt hat und in denen sich jetzt ihre Kinder aus Nepal ausruhen. «Sie schlafen heute noch oft zu dritt in einem Bett», sagt Wyler, es reiche ihnen nicht zusammen in einem Zimmer zu sein. «Sie brauchen die Nähe. Das gibt Halt.»

Rokpa heisst die Zürcher Hilfsorganisation, die Lea Wyler 1980 nach einer Pilgerreise gegründet hat. Das tibetische Wort bedeutet «helfen» und «Freund». Es fasst das Gründungsmotto «Helfen, wo Hilfe gebraucht wird» in fünf Buchstaben zusammen. Die Organisation betreibt in Kathmandu eine Gassenküche, einen Frauenworkshop für ehemalige Bettlerinnen, ein Guesthouse mit Café, das frühere Rokpa-Kinder leiten, und ein Kinderhaus, in dem 55 Strassenkinder ein Daheim gefunden haben. Daneben hilft Rokpa mit 120 Projekten in Tibet und anderen Ländern. Über 10 000 Kinder erhalten jedes Jahr eine Schulausbildung. 100 000 Menschen bekommen Essen, medizinische Versorgung, Mietzuschüsse, Kleiderhilfe. Und – vielleicht das Wichtigste: Liebe, Aufmerksamkeit, Anerkennung.

Zehn kleine Schauspieler und Tänzer aus dem Kinderhaus sind in diesen Tagen in der Schweiz, im Haus von Lea Wylers Familie. Sie proben dort und im evangelischen Kirchgemeindehaus von Celerina für die bislang grösste Herausforderung in ihrem jungen Künstlerleben: eine dreimonatige Schauspiel-Tournee durch die Schweiz, Deutschland, Italien, Finnland, England, Schottland und Polen. Alles ehemalige Strassen kinder. Frühere Bettler, Diebe und Drogenabhängige. «Katé» sei das schlimmste Schimpfwort für ein Strassenkind in Nepal. «Sei stolz, dass du ein Katé warst!», sagt Wyler den Kindern, wenn sie sich ihrer Herkunft schämen.

«Schau zurück, und sieh, was du aus dir gemacht hast! Du stehst auf einer Bühne und wirst beklatscht.» Da ist Smaila, 22, der von zu Hause weglief, weil ihn sein Vater verprügelte. Als er, gerade mal sechs Jahre alt, vor der Tür von Lea Wylers Kinderhaus stand, hatte er nichts an ausser einem zerrissenen T-Shirt. Heute spricht Smaila fliessend Englisch, er hat einen Collegeabschluss in Sozialarbeit und eine Zukunft als talentierter Tänzer vor sich. Joyti, 8, wohnt seit letztem Jahr im Kinderhaus. Sie fand ihren toten Vater, gestorben bei der Feldarbeit. Die hochschwangere Mutter, Joyti und ihre Geschwister landeten schnell als Bettler auf der Gasse. Trauer und Glück – jedes Kind spielt seine eigene Geschichte und erzählt damit auch seine Erfolgsgeschichte. «Alles, was ich tue, ist: ermöglichen. Die Kinder können entwickeln, was in ihnen angelegt ist. Es ist ein Wunder, wie aus verwahrlosten Strolchen selbstbewusste, ehrgeizige, liebevolle Menschen werden.»

Sandra Studer, Daniela Lager, Christine Maier oder Susanne Kunz unterstützen die Tournee und moderieren die Auftritte in Zürich, Winterthur, Basel oder Boswil. Die Sänger Seven, Marc Sway, Anna Rossinelli oder Bastian Baker treten im Vorprogramm der jungen Nepalesen auf. «Ich bin sehr nervös!», sagt Lea Wyler, denn die ehemalige Schauspielerin führt zum ersten Mal alleine Regie. Ein lange vergessenes Ereignis hilft ihr dabei. Sie sei vielleicht acht Jahre alt gewesen, als ihre eigene Mutter für ein Kinderdorf in Israel das von ihr verfasste Theaterstück «Meine Kinder sind es» inszenierte. Der Zweck: Geld sammeln für Kinder in Israel. Die kleine Lea zieht eine löchrige Hose, ein altes T-Shirt an und spielt den tunesischen Strassenjungen Uri. «Viele Kinder, die zu mir ins Kinderhaus kommen, sehen so aus. Das ist das echte Leben

Vor Kurzem hat sie für 500'000 Franken das staubige Grundstück neben dem Kinderhaus gekauft. Genauer: Sie hat es reserviert. Eine einmalige Chance, denn Land ist rar. Bekommt sie das Geld nicht in den nächsten zwölf Monaten zusammen, muss sie das Gelände wieder abgeben. «Ich will darauf neue Frauenprojekte planen, einen Spielplatz und eine weitere Gassenküche bauen», sagt sie.

Das Geld für Rokpa erbettelt sie unerschrocken von Freuden und Gönnern. Drei Millionen Franken Jahresbudget werden ausschliesslich durch Spenden finanziert. Ein Kind kostet im Kinderhaus pro Monat 204 Franken: für Lebensmittel, Kleidung, Schulgebühren. Dazu kommen die Unterhaltskosten für Schulen, Waisenhäuser, Garküchen.

Sie mache das seit 32 Jahren und gehe vielen Leuten mit ihrem Lieblingswort «Spendet!» auf die Nerven. «Aber an den Kindern sieht man, dass die Hilfe ankommt!» Und daran, dass immer öfter Kartonkisten rund um ihr Haus in Kathmandu leer bleiben.

Von Stephanie Ringel am 16. Mai 2012 - 15:34 Uhr, aktualisiert 20. Januar 2019 - 22:52 Uhr