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Visionäre Welten

KI-Künstler Tim Ra: «Die KI ist meine Lehrmeisterin»

Künstliche Intelligenz hält in vielen Bereichen Einzug und bringt bisher ungeahnte Möglichkeiten mit sich. Der Berliner KI–Künstler und Kulturphilosoph Tim Ra verrät, wie er die neuartige Technologie für seine Werke nutzt und warum er sie mit offenen Armen empfängt.

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KI-Künstler Tim Ra dringt mit seiner Arbeit in bisher unerforschte visionäre Welten vor. Wie in seinem Werk «Solaris AI».
KI-Künstler Tim Ra dringt mit seiner Arbeit in bisher unerforschte visionäre Welten vor. Wie in seinem Werk «Solaris AI». Tim Ra / lovelab Berlin

Tim Ra (53) ist einer der interessantesten und vielseitigsten Köpfe der Berliner Kulturszene. Seit über 25 Jahren mischt er dort als Musiker, Produzent, Videokünstler, Journalist und Kulturphilosoph mit. Im kreativen Umgang mit den neuen Möglichkeiten Künstlicher Intelligenz hat er sich ein weiteres Aktionsfeld erschlossen und soeben unter dem Titel «AI Experiment» eine vielbeachtete Ausstellung eigener KI–Kunstwerke präsentiert. Zudem vermittelt er in Workshops Kreativen aus allen Bereichen, wie sie mit KI–Software kooperieren können, um aufsehenerregende Bildergebnisse zu erzielen.

Im Interview mit der Nachrichtenagentur spot on news berichtet er über Perspektiven, Widersprüchlichkeiten und Herausforderungen dieser neuartigen Form der Kulturproduktion.

Tim Ra, Sie gelten als ein Pionier der sogenannten «KI–Kunst». Wie genau entstehen Ihre Bilder, die faszinierende und surreale, zuweilen auch verstörende Szenarien darstellen?

Tim Ra: Ich erforsche Möglichkeitswelten. Meine Bilder entstehen durch einfache Textbefehle oder textliche Bildbeschreibungen, sogenannte Prompts, die ich in das Programm Midjourney eingebe. Im nächsten Schritt liefert mir das Programm Vorschläge, aus denen ich mir als eine Art Kurator das aussuche, was ich interessant finde und dann weiter bearbeite. Bin ich nicht überzeugt, bearbeite ich den Prompt so lange, bis ich ein akzeptables Ergebnis habe. In meinem Workflow schicke ich dieses Bildergebnis meist noch durch ein zweites KI–Programm, Stable Diffusion, in dem es weiter raffiniert wird. Im letzten Schritt arbeite ich mit Photoshop und mit der in Photoshop eingebauten KI, um das perfekte Endergebnis zu erzielen. Das Ganze ist also ein mehrstufiger Prozess.

Der Ausgangspunkt von KI–Kunst besteht also ganz altmodisch im geschriebenen Wort?

Ra: Genau. Worauf es ankommt, ist herauszufinden, was der ästhetische Effekt einzelner Worte auf das Bildergebnis ist. Man gibt alltagssprachliche Formulierungen ein, beispielsweise «Ein trauriger Tag im Paradies» und wechselt dann einzelne Worte aus, ergänzt weitere Worte und schaut, was passiert. Dabei lernt man, wie die KI Worte interpretiert. Und diesen Code muss man lernen – das ist die eigentliche Herausforderung. Man muss ausprobieren, sich auch anschauen, wie Andere damit arbeiten. Das ist experimentelle Arbeit.

Das ist ein interessanter Punkt, da es ja immer so dargestellt wird, dass die KI eine «selbstlernende» Intelligenz ist. Anscheinend handelt es sich bei KI–Kunst aber um einen beiderseitigen Lernprozess?

Ra: So ist es. Die KI ist meine Lehrmeisterin. Oft überlasse ich der KI sehr bewusst die Führung: Ich will ein bestimmtes Ergebnis erzielen, das dann aber nicht herauskommt. Das Ergebnis ist zuweilen wesentlich interessanter als das, was ich eigentlich im Kopf hatte. Dann optimiere ich das erzielte Ergebnis, statt meiner ursprünglichen Idee zu folgen. Wer Ziele hat, ist verloren. Man muss sich dem Flow der KI anvertrauen.

Auch wenn der Mensch einen Einfluss auf das finale Werk hat, bleibt der Begriff «KI–Künstler» etwas widersprüchlich, da die KI einen Grossteil der Arbeit erledigt.

Ra: Tatsächlich haben sich in der KI–Community zwei Begriffe durchgesetzt, die beide das eher Technische des Entstehungsprozesses betonen. «Promptologist» ist der eine und der andere ist «Synthologist». KI–Künstler ist gar nicht so ein gängiger Begriff, was sicherlich auch mit dem Respekt für die handwerkliche Arbeit von Künstlern, die nicht mit KI arbeiten, zu tun hat. Wie man Kunst definieren will, ist letzten Endes ein weites Feld. Einer meiner Mentoren, der Streetartist Txus Parras, sagt gern: Kunst kommt nicht von Können, sondern von Machen. Mir geht es um Empowerment.

Mittlerweile bieten Sie auch KI–Kunst–Workshops an, die grossen Zulauf haben. – Welche Menschen kommen in Ihre Workshops und was lernen sie dort?

Ra: Bei meinen Workshops werden nicht nur die grundlegenden Befehle und Parameter der Text–zu–Bild–KI vermittelt, sondern vor allem ein Gefühl dafür, welche Worte welche künstlerische Wirkung erzielen. Die Teilnehmer kommen mit ganz unterschiedlichen Ideen in die Workshops: Die Künstlerin Sarah Weyrich designt Tarot–Karten, der Designer Gregor Marvel arbeitet an den Abenteuern seiner Kunstfigur Mr. GoM und Tarik Mustafa von der Bundesvereinigung Nachhaltigkeit entwirft Bilder urbaner Permakulturen.

Sie arbeiten seit 25 Jahren als Musikproduzent. Wie sieht es mit dem Einsatz von KI in der Musikproduktion aus? Was passiert, wenn Labels im grossen Stil die KI beauftragen, Songs zu produzieren, die genauso klingen wie die Rolling Stones oder Rihanna?

Ra: Ich freue mich auf Beatles–Trap, einen croonenden Deutschrap–Marvin–Gaye oder die Einstürzenden Neubauten mit Prince als Sänger – alles mutmasslich in wenigen Monaten mit KI machbar. In wenigen Jahren wird man als User auf Netflix möglicherweise nicht mehr nach Serien suchen, sondern einen Prompt eingeben: Ich möchte eine Sitcom mit Anke Engelke und Dave Chapelle im Stil von Lars von Triers «Kingdom» sehen. Und fünf Minuten später steht die erste Folge zur Verfügung. Das ist die neue Welt, an deren Schwelle wir uns befinden.

Viele Kreative reagieren wütend auf das Thema KI, da sich die neuartige Technologie derzeit ohne jegliche Steuerung aus dem gesamten Pool bisheriger menschlicher Kulturproduktion bedient und dabei das Urheberrecht ignoriert.

Ra: Es ist wichtig sicherzustellen, dass alle von der KI–Revolution profitieren können. Wer würde – beispielsweise – mit der KI–generierten Sitcom Geld verdienen – wer wird als Urheber genannt? Chapelle und Engelke? Lars von Trier? Der Kunde, der die Idee hatte? Wenn wir nicht aufpassen, wird nur Netflix profitieren. Wenn wir jedoch in einer Gesellschaft leben wollen, in der Kreativität wertgeschätzt wird und sinnvoll finanziert werden kann, dann dürfen die Erträge nicht wieder – wie beim Musikstreaming – primär bei den Anbieter–Plattformen bleiben. Und wenn wir uns vor weiteren bösen Überraschungen durch die KI–Branche schützen wollen, führt kein Weg an demokratischer Kontrolle von KI–Unternehmen vorbei.

Von SpotOn am 4. November 2023 - 04:49 Uhr