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Anschläge jähren sich zum zehnten Mal

Terror in Paris 2015: Was bleibt vom europäischen 9/11?

Am 13. November 2015 erschütterte eine beispiellose Terrornacht die Stadt Paris – und mit ihr ganz Europa. Zehn Jahre später erinnern sich Beteiligte an die Stunden zwischen Angst und Zusammenhalt. Wie hat die Nacht von Paris das Leben verändert?

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Weltweit kam es nach den Anschlägen zu Solidaritätsbekundungen.
Weltweit kam es nach den Anschlägen zu Solidaritätsbekundungen. istock/AdrianHancu / iStock via Getty Images

Ein milder Novemberabend in Paris. In den Bars der Amüsierviertel klingen die Gläser. Im Stade de France ist alles angerichtet für einen hochklassigen Fussballabend. Und in einer Konzerthalle im Zentrum rocken Metal–Fans zu den Riffs ihrer Lieblingsband. Dann kippt alles – und der Terror färbt die Stadt an der Seine blutrot. Der Rückblick zeichnet die Ereignisse des 13. November 2015 nach. Wie hat der Terror–Abend von Paris unsere Welt verändert? Und: Bewahrte der türkische Präsident Erdogan Ex–Bundestrainer Joachim Löw und sein Team tatsächlich vor einer Katastrophe?

Schweinsteiger: «Der schwärzeste Tag»

«Diese Erinnerungen löschen sich nicht.» Kurz vor dem glanzvollen Auswärtssieg gegen Paris Saint–Germain Anfang November gedenkt Torwart–Ikone Manuel Neuer (39) der Ereignisse vor zehn Jahren. Damals steht er im Tor der Nationalmannschaft, die von Joachim Löw (65) trainiert und von Bastian Schweinsteiger (41) aufs Feld geführt wird. 80.000 im Stade de France freuen sich auf ein hochklassiges Freundschaftsspiel zwischen dem EM–Gastgeber 2016 und dem amtierenden Weltmeister Deutschland.

Auch der damalige Aussenminister Frank–Walter Steinmeier (69) und der französische Staatspräsident Francois Hollande (71) hoffen auf einen prickelnden Schlagabtausch zweier EM–Favoriten. Doch alles kommt anders. Steinmeier wird die Ereignisse des Abends später mit 9/11 vergleichen. Und in der ARD–Dokumentation «Terror. Fussball. Paris 2015.» erinnert sich Schweinsteiger: «Du bereitest dich auf ein Top–Spiel vor – und am Ende ist es der schwärzeste Tag.»

Hollande: «Zweite Detonation liess keinen Zweifel»

Die Hymnen sind verklungen, das Spiel ist erst wenige Minuten alt, als eine ohrenbetäubende Detonation durchs Stadionrund hallt. Schon am Vormittag musste die deutsche Elf nach einer Bombendrohung ihr Team–Hotel verlassen, ihr Aufwärmprogramm auf die French Open–Anlage von Roland Garros auslagern. Drei Minuten später folgen eine zweite, eine dritte Explosion. Für Präsident Hollande ist klar: «Es war die zweite Detonation, die keinen Zweifel mehr daran liess, was passiert ist.» Terror! Wenige Minuten später wird er über einen Anschlag ausserhalb des Stadions unterrichtet.

Zwei IS–Terroristen wollen sich mit gefälschten Tickets und Sprengstoff–Westen am Leib Eintritt ins Stadion verschaffen und dort ein Blutbad anrichten – inmitten der weltweiten Live–Übertragung des Spiels. Geistesgegenwärtig hindert ein Angehöriger des Sicherheitsdienstes die Attentäter am Zutritt. Sie sprengen sich, genau wie ein dritter Attentäter, vor dem Stadion–Eingang in die Luft. Auch ein Zuschauer stirbt. Die Spieler ahnen zu diesem Zeitpunkt nichts – und werden auch in der Halbzeit nicht eingeweiht.

«Freiheit ist ein unzerstörbares Denkmal»

Gleichzeitig schlagen an mehreren Orten der Stadt islamistische Terroristen brutal zu. Sogar aus Autos heraus erschiessen Terroristen Unschuldige. Vor allem der 11. Stadtbezirk gerät zum Zentrum des Terrors. Im historischen Konzertsaal Bataclan begeistert die US–amerikanische Heavy Metal Band «Eagles of Death Metal» gerade 1.500 Fans. Kurz vor 22 Uhr stürmen drei schwer bewaffnete IS–Terroristen den Saal und schiessen wahllos um sich. Die Metal–Fans glauben zunächst an spezielle Sound–Effekte der Band, ehe sie realisieren: Hier werden Menschen hingerichtet und Geiseln genommen.

Allein im Bataclan finden 89 Konzertbesucher den Tod. Gegen 0.30 Uhr stürmt ein Sondereinsatzkommando das Gebäude. Ein Attentäter wird erschossen, die beiden anderen sprengen sich in die Luft. Die Terrornacht von Paris fordert 130 Todesopfer und Hunderte Verletzte. Am 17. November 2015 bringen die Pariser an der Fassade des Bataclan ein Banner an: «Die Freiheit ist unzerstörbares Denkmal.»

Löw: «Nicht als Helden aufspielen»

Den Ländervergleich gewinnt Frankreich mit 2:0 – nichts könnte unwichtiger sein. Direkt nach Abpfiff um 22.:45 Uhr werden die Spieler in die Katakomben des Stadions getrieben. Auf dem Weg dorthin sehen sie auf einem kleinen Fernseher erste Bilder des Terrors rund ums Stadion. In den Umkleidekabinen informiert sie ein Sicherheitsbeamter des Bundes über die Ereignisse des Abends und bereitet sie auf eine lange Nacht im Stadion vor. Die Terrorlage im Pariser Stadtgebiet ist mehr als unübersichtlich. In den Fluren werden Matratzen ausgebreitet.

Joachim Löw erinnert sich: «Uns wurde klar, dass wir in einer Notsituation sind, wie wir sie noch nie erlebt haben.» Ersatztorhüter Kevin Trapp (35), gerade nach Paris gewechselt, hat seine Verlobte Izabel Goulart (41) am Telefon: «Sie hat nur noch geweint.» Löw und sein Teammanager Oliver Bierhoff (57) leisten seelische Aufbauarbeit: «Wir versuchten, uns nicht als Helden aufzuspielen. Unsere einzige Aufgabe: beruhigend auf Spieler einwirken, die sehr viel Angst hatten.»

Erdogans Warnung und der Exit

Am frühen Morgen organisiert Bierhoff gerade die Rückfahrt mit dem Bus ins Team–Hotel, als Löws Handy klingelt. Am anderen Ende: sein türkischstämmiger Berater Harun Arslan. Ein enger Freund des türkischen Staatspräsidenten Erdogan (71) habe ihn angerufen: «Gruss vom türkischen Präsidenten. Fahrt auf keinen Fall ins Hotel zurück. Der Geheimdienst hat Informationen, dass das Hotel ein Terror–Ziel ist.» Bis heute ist unklar, ob Erdogan Löws Mannschaft vor einer Katastrophe bewahrte.

Kurzerhand tauscht das Team den Mannschaftsbus gegen kleinere Vans, in denen es seine Stadion–Burg um 5:30 Uhr morgens verlässt. Es geht direkt zum Flughafen und zurück nach Deutschland. Den Schrecken von damals behalten die Spieler in ihrem Gepäck. Ein weiteres Länderspiel nur vier Tage nach dem Paris–Terror in Hannover gegen die Niederlande wird in letzter Minute abgesagt. Die exakte Begründung verweigert Innenminister Thomas de Maizière damals mit seinem legendären Satz: «Ein Teil dieser Antworten würde die Bevölkerung verunsichern.»

«Stolz auf unsere Werte»

Die Ereignisse von Paris haben ihre Spuren hinterlassen. Sicherheitskontrollen, bewaffnete Polizisten und verstärkte Videoüberwachung gehören nicht nur zum Alltag. Sie bedeuten ein Ende der Illusion, Anschläge wie 9/11 in den USA seien in Europa nicht möglich. Gleichzeitig wächst die Skepsis gegenüber Migration und offenen Grenzen. Rassismus und Rechtsextremismus nehmen stetig zu. Anschläge auf deutschem Boden, ob islamistisch oder anderweitig motiviert, sind Teil des alltäglichen Kalküls geworden. Sie sorgen, auch bei den Behörden, für massive Verunsicherung trotz gestiegener Sicherheitsstandards. Am Beispiel des zunächst gestatteten, dann kurzfristig abgesagten Magdeburger Weihnachtsmarktes zeigt sich das ganze Dilemma.

Die Anschläge richten sich nicht gegen bestimmte Personen, sondern gegen die Lebensfreude an sich – gegen all das, was offene Gesellschaften ausmacht: Musik, Gemeinschaft, Freizeit, gegen Stadion, Konzerte, Strassencafés. Ein Blick nach Paris direkt nach den Anschlägen im November 2015 lohnt: Der Terror wollte Angst säen, Spaltung erzeugen, Vertrauen zerstören. Doch in den Tagen danach zeigte sich das Gegenteil. Paris hielt zusammen, Europa trauerte gemeinsam. Joachim Löw beschreibt es so: «Ich denke oft an diese Nacht. Aber ich denke auch daran, wie ruhig, wie solidarisch wir alle geblieben sind. Das hat mich stolz gemacht – auf meine Mannschaft, auf unsere Werte.»

Von SpotOn vor 2 Stunden