Die Szene ist von schwindelerregender Schönheit. Im wahrsten Sinne. Mitten auf einer schwankenden Hängebrücke spielt ein junger Mann auf einem weissen Klavier eine sanfte Melodie. Loris Mittaz (24) ist Pianist. Und er ist blind.
Sein Spiel ist so einnehmend, dass ihn die Tourismusregion Crans-Montana in einem Video kunstvoll in Szene setzte: Er spielt auf einem Berggipfel bei Sonnenaufgang, auf einer Blumenwiese, in einer Gondel schwebend. Der Slogan dazu: «Er sieht die Landschaften nicht, er spielt sie.» Das Video ging viral.
Loris Mittaz ist 24 und als Pianist ernsthaft. Er hat sich aber eine lausbübische Seite bewahrt, scherzt gern und findet dadurch er leicht Freunde.
Nicolas RighettiLoris Mittaz wuchs in Crans-Montana VS auf und lebt noch immer in seinem Elternhaus mit der traumhaften Aussicht. Früher konnte er sie sehen. Heute vertraut er darauf, dass die Leute wissen, was sie tun, wenn sie ihn auf eine Hängebrücke setzen, unter der es hundert Meter in die Tiefe geht. «Mir war schwindlig», sagt er und verzieht das Gesicht zu einem spitzbübischen Lächeln. «Und so mulmig, dass ich Kopfschmerzen bekam. Aber sobald ich am Piano sitze, verschmelze ich mit der Musik, bin in meiner Blase.»
Er liebt den Vibe des Publikums
Mittaz liebt Auftritte, vor allem vor Publikum, er spielte schon am Verbier Festival und an den Crans-Montana Classics. «Ich spüre den Vibe im Raum, fühle, wie das Publikum auf meine Musik reagiert», sagt Mittaz. Was er auch mag: nach einem Auftritt mit den Besuchern diskutieren.
Nicht ausstehen kann er hingegen, wenn ihm Hilfe aufgedrängt wird. Fragen, ob er welche brauche, sei absolut in Ordnung. Aber ein Nein sei zu akzeptieren. «Ich wurde schon samt Rucksack aus dem Bus gezerrt. Das ist übergriffig!» Dass er eines Tages blind sein würde, wusste er schon als Kind. Loris hat einen Gendefekt. Mit Tricks wie dem, sich ganz nah an die Wandtafel zu setzen, konnte er die reguläre Schule abschliessen, ehe es ganz dunkel wurde um ihn.
Labradordame Anis und Loris Mittaz mussten sich zuerst aneinander gewöhnen. Jetzt ist es grosse Liebe.
Nicolas RighettiAuch Fussball, Loris’ grosse Leidenschaft, spielte er, bis seine Kameraden fanden, er kassiere als Goalie etwas gar viele Tore. «Ich musste einsehen, dass es wohl Zeit war, ein neues Hobby zu suchen», kommentiert er lakonisch.
Da war er neun.
Seine Mutter brachte ihm einfache Lieder auf dem Klavier bei, «Au clair de la lune» oder «Frère Jacques». Und dann kam 2011 «Intouchables» («Ziemlich beste Freunde») ins Kino. Loris Mittaz ist hin und weg von der Filmmusik. Nun will er unbedingt richtig Klavierspielen lernen. Noten, riesig geschrieben, kann er noch eine Weile lesen. Inzwischen muss er sie auswendig lernen.
Sein Gehörsinn entwickelte sich so stark, dass er heute «hört», was ein Dirigent dem Orchester vorgibt – was immer wieder für Verblüffung sorge.
Mit etwa 14 Jahren schliesslich braucht Loris Mittaz die Hilfe eines Blindenhundes.
Da war die Angst vor Hunden
Dumm nur, hat die ganze Familie Mittaz panische Angst vor Hunden. Es habe etwas gedauert, schmunzelt Loris, bis alle bereit waren für die weisse Labradorhündin Anis.
Steht er von seinem Stuhl auf, hebt Anis unwillkürlich den Kopf und schaut, ob sie gebraucht wird. «Für mein Umfeld war meine fortschreitende Erblindung wohl härter als für mich», vermutet Loris, «ich arrangiere mich einfach damit.»
Zuerst ging es um Musik und Film, dann wurden sie enge Freunde: Rapper Lionel Berclaz, Pianist Loris Mittaz und Dokumentarfilmer Gaël Métroz.
Nicolas RighettiAuch beruflich. Er ist in der Ausbildung zum Medizinischen Masseur und gibt Klavierunterricht. Sein ganzes Denken dreht sich um Musik. Am 17. Oktober erscheint sein erstes Album – «Blackout» – zum Streamen und ganz haptisch auf Vinyl.
Es handelt von seinem Weg in die Dunkelheit. Ein 20-Mann-Orchester ist darauf zu hören und die Rhymes seines Kumpels Lionel Berclaz (30), dem Rapper mit der Samtstimme. «Vor drei, vier Jahren suchte meine Band einen Pianisten. Wir hörten von Loris, gingen an einen Auftritt und luden ihn auf ein Bier ein. Nach einer Viertelstunde waren wir Freunde», erzählt Berclaz.
Scherzkeks mit Hang zu Autonomie
«Er hat diese unbeschwerte, natürliche Art, reisst gern Witze und lacht viel.» Seit einem Jahr begleitet ihn auch Regisseur und Filmemacher Gaël Métroz (46) mit der Kamera. «Ich las in der Lokalzeitung über ihn und wurde neugierig.»
Métroz dokumentiert regelmässig das Leben faszinierender Menschen. «In Loris steckt so viel Potenzial, als Musiker, aber auch als Mensch. Mich interessiert brennend, wie es weitergeht.» Loris Mittaz findet sein Leben so weit ganz in Ordnung, lediglich mehr Autonomie wäre wünschenswert. Ihn fuchst, dass er die Autoprüfung nicht machen kann und auf Fahrdienste angewiesen ist. Und der TV-Kanal für Sehbehinderte, findet er, sei überflüssig. «Ich muss nicht hören, dass jetzt einer zu einer roten Tasse greift. Mir reichen die Dialoge, um zu checken, worum es geht.»