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Digi-Tal 2021– Das Präsidenten-Interview

«Die ganze Schweiz ist ein Tal»

Die Artenvielfalt macht unser Land erfolgreich, sagt Martin Vetterli, Präsident der EPFL. Warum wir eine ArtSBB für die digitalisierte Welt brauchen und weshalb es sich lohnt, nach dem «Digi-Tal» der Schweiz zu suchen.

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Martin Vetterli

«Innovation begann in der Schweiz nicht mit einem Tal, sondern mit einem Bogen»: Martin Vetterli.

Geri Born

Die Schweiz hat viele Technologietäler. Aber ist es eine gute Idee, hier nach einem neuen Silicon Valley zu suchen? Über dieses Thema sprachen wir mit Martin Vetterli, Präsident der welschen ETH und immer noch Forscher in den Computerwissenschaften. Wir treffen ihn in seinem Labor in einer Schule, die wegen Corona noch leer steht.

Présenté par

Martin Vetterli, das Silicon Valley in Kalifornien ist weltweit ein Begriff. Kann eine solche Region auch in der Schweiz gefunden werden?
Niemand wachte eines Morgens in der Nähe von San Francisco auf und dachte, dass es eine gute Idee wäre, der Region einen solchen Namen zu geben – in der Hoffnung, dass sie zu einer der innovativsten der Welt wird. Im Allgemeinen ist es besser, wenn Aussenstehende uns als etwas Grossartiges erkennen, als wenn wir es selbst sagen müssen.

Stimmt, aber so ein Tal passt ja auch zur Schweiz – zum Land der Berge.
Historisch gesehen begann aber alles mit einem Bogen, nicht mit einem Tal. In den Schweizer Alpen war es der Jurabogen, der durch Uhren und Präzision bekannt wurde. Dieses in der Mikromechanik entwickelte Know-how war besonders fruchtbar, da später die Medizintechnik daraus hervorging.

Und in der Deutschschweiz?
Die chemische Industrie in Basel bildete die Basis für viele Innovationen. Die Region zog Industrielle an, die dem deutschen Immaterialgüterrecht entgehen wollten. Die Schweiz hatte damals kein Gesetz zum Schutz des geistigen Eigentums, und man konnte sich von deutschen Patenten «inspirieren» lassen. Der Raum Zürich war eher das Zentrum der Industrialisierung rund um den Eisenbahnboom. Passiert viel Interaktion auf kleinem Raum mit intensivem Gedankenaustausch, dann springt der Funke über.

Martin Vetterli

Martin Vetterli mit Mitarbeitenden der EPFL: «Passiert viel Interaktion auf kleinem Raum, springt der Funke über.»

Geri Born

Inwieweit war die kulturelle Vielfalt der Schweiz ein Vorteil?
Sie ist entscheidend. Eine Monokultur wie beispielsweise Detroit mit seiner Autoindustrie hätten wir in der Schweiz nie gehabt. Dieser Ansatz macht eine Region von einer einzigen Aktivität abhängig. Wenn eine Krise eintritt, ist die Katastrophe vorprogrammiert. Die vielseitige Schweiz, die pragmatisch und gut vernetzt ist, tappte zum Glück nie in diese Falle.

Wir haben keine Industriepolitik – fehlt uns da etwas?
Zum Glück haben wir keine!

Wieso?
Weil wir mit einer Industriepolitik immer wieder scheitern würden: Unser ganzes Land ist so gross wie das Silicon Valley – wir brauchen einen anderen Ansatz. Für mich ist die ganze Schweiz ein Innovationstal. Unser eigentlicher Wert ist die Artenvielfalt. Oft sieht jeder nur das Tal vor der eigenen Haustür und neigt dazu, die Bedeutung seiner Ecke der Welt zu überschätzen. Doch von der internationalen Raumstation aus gesehen, ist die Schweiz ein einziges Tal.

Diesen Wert der Schweiz müssen wir aber auch kommunizieren und uns gut positionieren, oder?
Die Schweiz muss sich auf ihre Vergangenheit besinnen. Sich an ihre ursprünglichen Werte erinnern und unbeirrt ihre Rolle als Kleinstaat im globalen Massstab spielen. Eigentlich ist es absurd, dass wir die Plattform für Gespräche zwischen dem Iran und den USA sind oder das Zentrum des IKRK – einer der wichtigsten Institutionen, die jemals in der Welt geschaffen wurden. Solche Errungenschaften beruhen auf unserer demokratischen Stabilität und Transparenz. Die Herausforderung ist, diesen Ansatz, der uns im 20. Jahrhundert Erfolg gebracht hat, in einer digitalen Welt fortzusetzen.

«Wir brauchen eine Art SBB der digitalen Welt – eine sichere und unabhängige Infrastruktur»

Martin Vetterli, Präsident der EPFL

Welche Rolle spielt dabei der Wettbewerb?
Unsere Artenvielfalt soll alle Regionen der Schweiz beleben, denn Protektionismus tötet Innovationen. Eines der besten Beispiele ist der Schweizer Weinmarkt. Seit der Marktöffnung, die von der Branche seinerzeit als Katastrophe empfunden wurde, hat die Qualität unserer Weine einen entscheidenden Sprung nach vorne gemacht, und unsere besten Winzer haben internationale Anerkennung erlangt.

Unsere stark fragmentierte föderale Organisation hat aber auch Grenzen.
Unser kompliziertes Regieren erwies sich in mancher Hinsicht als Desaster während Corona. Aber es hatte auch Vorteile. Die Verwaltung überdauert die Politik und bleibt eine Säule der Stabilität. Die grosse Lehre war: Der Maulkorb, den die SVP der Wissenschaft anlegen wollte, indem sie versuchte, die Taskforce zum Schweigen zu bringen, wurde vom Parlament abgelehnt. In dieser Krise waren die Wissenschaftler der Schlüssel zu einer fundierten politischen Entscheidungsfindung. Wissenschaftler haben starke Meinungen, sie wurden manchmal missverstanden oder haben nicht immer gut kommuniziert. Aber am Ende haben wir einen Impfstoff, der in weniger als zwölf Monaten produziert wird, und das ist grossartig! Die Wissenschaft wurde angefeindet, aber sie geht am Ende des Prozesses gestärkt daraus hervor.

Martin Vetterli, Professor fuer Informatik und Kommunikation
Geri Born

Was brauchts, damit die Schweiz mehr Innovationen hervorbringt?
Wir brauchen eine Art SBB der digitalen Welt. Sie muss sicher und unabhängig sein und die Grenzen der Kantone überwinden. Die Welt organisiert sich rund um das Digitale neu, und uns fehlt eine nationale Struktur in die-sem Bereich. Wir müssen eine Open-Source-Einstellung haben, aber auch Wege finden, Werte zu schaffen.

Wie meinen Sie das?
Ein Beispiel: Wir produzieren mit Swisstopo die besten Karten der Welt, deren Genauigkeit legendär ist. Aber sie sind kostenlos erhältlich, dabei könnten wir um diese Kompetenz herum mit der Gründung von Start-ups ein ganzes Ökosystem schaffen, das einen zusätzlichen Wert bringt. Heute haben wir 26 Datenschutzdienste und am Ende das Wallis, das alles blockiert.

Fällt es uns schwer, mit der komplexen neuen Welt umzugehen?
Absolut. Während Corona haben wir festgestellt, dass wir nicht in der Lage sind, Gesundheitsdaten effizient zu sammeln: Das müssen wir besser machen. 1908 gab es zwölf Bahngesellschaften mit ebenso vielen Fahrplänen. Ein Fahrgast brauchte fünf Billette, um von Genf nach St. Gallen zu gelangen. Die Schweiz bereinigte die Sache durch die Gründung der SBB. Wenn wir eine Parallele zum heutigen Gesundheitssystem ziehen, rühren unsere Schwierigkeiten daher, dass die öffentliche Gesundheit in der Verantwortung des Bundes und die persönliche Gesundheit in der Verantwortung der Kantone liegt. Es ist unmöglich, die öffentliche Gesundheit von Bern aus zu verwalten, ohne Zugang zu persönlichen Daten zu haben, die in der Verantwortung der Kantone liegen. Deshalb brauchen wir auch hier einen vernetzten Ansatz.

Von Stéphane Benoit-Godet und Übersetzt von: Lynn Scheurer am 2. Juli 2021 - 15:42 Uhr